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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen
Autoren: Jan Seghers
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|11| Eins

    Als sie endlich die letzten Bäume hinter sich gelassen hatte, öffneten sich unter ihr die Felder. Einen Moment lang hielt
     sie inne und legte die Hände vors Gesicht, weil die Helligkeit der schneebedeckten Ebene sie blendete. Einen Tag nach jenem
     schrecklichen Unglück hatte sich der Winter noch einmal mit der Kraft eines Todgeweihten gegen das Frühjahr aufgelehnt. Die
     Temperatur war ein letztes Mal um einige Grade gesunken, und ein schneidender Ostwind, der vom Rhein herüberwehte, hatte Schnee
     und Eis über das Land getrieben. Um ihre Schultern war eine Decke gewickelt gegen die Kälte des Waldes. Aber jetzt stand die
     Mittagssonne hoch am Himmel, mühsam verdeckt von einer dünnen Schicht Wolken. Das Mädchen legte den Kopf in den Nacken und
     schloss die Augen. Der Reif auf seinen Wimpern schmolz, das Wasser floss in kleinen Rinnsalen die Wangen hinab und hinterließ
     Spuren im Schmutz auf der Haut. Wenige Tage später sollte das Mädchen den Namen Manon erhalten.
    Manon hatte Hunger. Dreimal war es dunkel geworden, seit sie unterwegs war, und dreimal wieder hell. Kein Mensch war ihr begegnet.
     Einmal hatte sie ein Reh gesehen, aber als sie sich dem Tier hatte nähern wollen, war es geflohen. Noch immer stand sie am
     Waldrand und blinzelte in die Ebene. Wenn sie ihr Gewicht vom einen auf das andere Bein verlagerte, verzerrte sich ihr Mund
     vor Schmerzen.
    Zögernd hinkte sie weiter. Fast wirkte sie selbst wie ein vorsichtiges Tier, das sich in der fremden Umgebung erst noch zurechtfinden
     muss. Ihre Kleider waren zerrissen und an einigen Stellen starr vom getrockneten Blut. Wenn sie meinte, ein |12| Geräusch zu hören, blieb sie stehen, legte lauernd den Kopf auf die Seite, dann wischte sie sich mit dem Ärmel übers Gesicht
     und ging weiter. Manchmal sprach sie auch mit einem Vogel, mit einem Strauch oder Stein, aber kein Mensch, der ihr begegnet
     wäre, hätte ihre Sprache verstanden. Unter großer Erregung stieß sie nie gehörte Laute hervor, ihre Züge verzerrten sich,
     sie gestikulierte mit den Armen und schüttelte die Fäuste wie ein Priester, der die Welt vor ihrem nahen Ende warnen will.
     Dann wurden ihre Augen wieder leer, und sie ließ die Schultern sinken, als habe sie die Vergeblichkeit ihrer Mühen einsehen
     müssen.
    Jetzt kam von Westen Wind auf und fegte den Himmel blank. Mit schweren Flügeln strich ein Bussard übers Feld. Unter Manons
     Füßen brach das kalte Laub. Weit hinten eine Kate, die Bäume kahl und eine Frau, die Brennholz sammelte. Blau hing der Winter
     überm Land, darunter alles schwarz und weiß. Eine Katze duckte sich durch die Ackerfurchen, dann sprang sie auf und einer
     Krähe nach, die ihr entwischte. Jetzt saß die Katze da und lugte ratlos in die Luft, der Vogel aber ließ sich auf einem fernen
     Ast nieder. Manon musste lachen. Vor ihrem Mund gefror die Luft zu weißen Flocken.
    Als sie an einem Abhang Kinder sah, die Schlitten fuhren, presste sie ihre Hände auf die Ohren, um das Lachen und die Rufe
     nicht zu hören. Sie schlug einen Bogen um den Hügel, verbarg sich gelegentlich hinter einer Hecke. Sie floh die Nähe der Menschen.
     Einmal tauchte unvermutet ein Bauer mit seinem Traktor vor ihr auf, da warf sie sich hinter einen Findling und blieb reglos
     am Boden liegen, bis das Motorengeräusch in der Ferne verklungen war. Bevor sie aufstand, bewegte sie die Arme auf und ab,
     sodass ein Muster im Schnee entstand, das der Figur eines Engels glich. Vielleicht hatte ihr Vater sie dieses Spiel gelehrt.
     Sie ließ den Engel liegen und zog weiter; ihr Atmen wurde mit jedem Schritt schwerer. Längst |13| war das Leder der Schuhe durchweicht, und die Haut ihrer Füße scheuerte an den nassen Wollstrümpfen. Auch die Kleider waren
     feucht; langsam kroch das Fieber in ihren Körper.
    Sie folgte dem Lauf eines Baches, dessen Ufer mit schrundigem Eis bedeckt waren. Nur in der Mitte bahnte sich das Wasser einen
     schmalen Weg und floss dem Mädchen gurgelnd voraus. Manons Hunger wurde größer. Sie fand ein paar Bucheckern, kaute lange
     auf den harten Früchten herum und spuckte die Überreste schließlich aus. Dann bückte sie sich, nahm etwas Schnee, ließ ihn
     in den Handflächen schmelzen und leckte das Wasser auf. So hatte sie es auch die Tage zuvor gemacht.
    Als sie sich der Kate näherte, begann es bereits zu dunkeln. Das Häuschen stand einsam inmitten der weiten Felder, und dass
     es bewohnt war, sah man nur an dem Rauch, der
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