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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen
Autoren: Jan Seghers
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Kräften war, dass sie ohne Hilfe auf den Beinen stehen und im Haus umhergehen konnte, bereitete
     Madame Fouchard ihr ein Bad und machte sich daran, sie zu entkleiden. Ohne Gegenwehr ließ Manon alles mit sich geschehen.
     Sie ließ sich waschen, die Haare einseifen und hinterher mit lauwarmem Wasser abspülen, allerdings vermied sie es, der Witwe
     in die Augen zu schauen, und immer wenn sich ihre Blicke begegneten, senkte sie rasch die Lider.
    Nun, da sie das Mädchen, befreit vom Schmutz und den zerrissenen Kleidern, zum ersten Mal wirklich sah, war Madame Fouchard
     von dem Anblick, der sich ihr bot, zutiefst erschüttert. So etwas hatte sie, die sich einiges darauf zugute hielt, eine weitgereiste
     und in den Dingen der Welt und der Menschen bewanderte Frau zu sein, noch nie gesehen.
    Soll man sagen, dass Manon
schön
war? Ja. Aber was war das für ein abgenutztes, schales Wort für eine solche Schönheit! Musste denn nicht jedes Wort verblassen
     neben der Wirklichkeit dieses Gesichts, dieser Gestalt und ihrer Bewegungen? Ein schön geschnittenes Profil gab es häufiger,
     der Schwung ihres Nackens war nicht einzigartig, ihre schmalen Augen mit den großen Pupillen, das übervolle kupferfarbene
     Haar, die schimmernden Zähne, die kirschroten Lippen, die Linie ihres Rückens, all das war, jedes für sich genommen, nichts,
     was man nicht auch bei anderen Frauen hätte finden können. Bei Manon allerdings vereinigten sich all diese Eigenschaften zu
     einem so überirdischen Liebreiz, dass es der Witwe das Herz zusammenkrampfte. Einzig ein kleines, kreisrundes Muttermal, |22| das sich auf der hellen Haut unter der linken Brust abzeichnete, trübte die Vollkommenheit, und doch betonte ebendieser vermeintliche
     Fehler nur umso deutlicher die ansonsten makellose Anmut. Und noch im selben Moment begriff die Witwe, dass Manons Schönheit
     kein Vorzug war, der dem Mädchen sein künftiges Leben erleichtern würde, dass es sie vielmehr wie eine schwere, nicht abzuwerfende
     Last würde tragen müssen. Die Frauen würden Manon mit Neid und Missgunst begegnen, die Männer aber mit jener Gier, die, weil
     sie von Angst und Kleinmut begleitet wird, sich bald in Eifersucht wandelt und am Ende nichts als Zerstörung hervorbringt.
    Wirklich, Manon war schön, wie man so sagt: unbeschreiblich schön. Und doch war es eine Schönheit, die sie so sehr von ihrer
     Umgebung abhob, dass man meinen konnte, das Mädchen sei, egal, wie viele Menschen um es waren, allein. Dieser Eindruck wurde,
     wie sich bald zeigen sollte, noch deutlicher, da sich Manon ihrer Schönheit nicht bewusst zu sein schien. Sie bemerkte die
     Blicke nicht, die ihr folgten, wenn sie später über den Dorfplatz ging, hörte die geflüsterten Bemerkungen nicht, wenn sie
     den Tanzsaal des Gasthofs durchschritt. Ihre Wirkung beruhte auf jener Mischung aus Unschuld und Verheißung, die es so selten
     gibt, die willentlich nicht zu erzeugen ist und der sich kaum jemand, der ihr begegnet, entziehen kann.

|23| Drei
    Unter der Obhut der Witwe erholte sich Manon schnell. Obwohl sie sich an nichts zu erinnern schien, was ihr Leben vor der
     Ankunft bei Madame Fouchard ausgemacht hatte, erlangte sie doch ihr Sprachvermögen rasch zurück, und es stellte sich heraus,
     dass sie ebenso fließend französisch wie deutsch sprechen konnte und nur gelegentlich ein Wort aus der einen Sprache mit dem
     gleichbedeutenden Wort aus der anderen verwechselte. Um den Fragen der Dörfler zuvorzukommen, erzählte Madame Fouchard, das
     Mädchen sei eine entfernte Verwandte, Tochter eines verstorbenen Cousins, dessen Frau im Krankenhaus liege und sie gebeten
     habe, sich um Manon zu kümmern.
    Neben ihrer Schönheit gab es eine weitere Eigenschaft, die Manon auszeichnete, und das war ihre ziellose Neugier. Als müsse
     sie jene Phase der Kleinkinder, in der diese versuchen, den Dingen ihrer Umgebung auf den Grund zu gehen, nachholen oder immer
     wieder aufs Neue durchleben, stellte Manon der Witwe unentwegt Fragen nach dem Warum und Woher. Sie, die alles vergessen zu
     haben schien, was ein menschliches Wesen von den Tieren unterscheidet, lernte so schnell und so begierig, dass Madame Fouchard
     bald an ihre Grenzen gelangt war und sich nicht anders zu helfen wusste, als jede Woche einmal in die Kreisstadt zu fahren,
     um aus der öffentlichen Leihbücherei immer neue Stapel mit Büchern zu holen. Es schien nichts zu geben, was Manon nicht interessierte.
     Ein Lehrbuch der Botanik las
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