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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen
Autoren: Jan Seghers
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dünn aus dem Schornstein emporstieg, bevor er sich im Abendhimmel verlor. Schließlich
     ging ein Licht im Innern des Hauses an. Erschrocken zog sich Manon zwischen ein paar Bäume zurück, die, nicht weit entfernt,
     das Ufer des Baches säumten. Eine Weile verharrte sie so, bis sie erneut den Mut fand, sich dem Gebäude zu nähern. Einige
     Male umkreiste sie das kleine Haus, immer darauf bedacht, dass man sie nicht entdeckte, dann schlich sie dicht heran, drückte
     ihren Rücken an die Mauer und bewegte sich vorsichtig auf das beleuchtete Fenster zu. In dem Zimmer saß eine ältere Frau an
     einem Tisch und las in einem Buch. Sie hatte noch dunkles, fast schwarzes Haar, das sie zu einem seitlichen Knoten geschlungen
     hatte. Ab und zu ließ sie das Buch auf den Tisch sinken, schloss die Augen und bewegte lautlos die Lippen, als ob sie betete.
     Von Schmerz oder Hunger getrieben, begann Manon zu wimmern, leise genug, dass man sie im Haus nicht hören konnte, aber doch
     so laut, dass sie sich nicht allein fühlte.
    Als die Frau das Licht gelöscht hatte und es im Haus ganz still geworden war, öffnete das Mädchen das verriegelte Tor |14| zur Scheune, das sie zuvor bereits ausgespäht hatte, tastete sich durch die Finsternis, bis sie einen Ballen Stroh gefunden
     hatte, löste das Band, verteilte das Stroh auf dem Boden, legte sich darauf und fiel in einen tiefen, fieberschweren Schlaf.
    Am nächsten Morgen wurde Manon durch das Rumoren der Frau geweckt. Sie kroch zum Eingang des Schuppens und öffnete die Tür
     gerade weit genug, dass sie durch einen schmalen Spalt hinaus auf den Vorplatz des Hauses sehen konnte. Aufmerksam beobachtete
     sie jede Bewegung, die ihre ahnungslose Gastgeberin machte. Schließlich holte diese einen Korb aus dem Haus, setzte sich in
     ihr Auto, ließ den Motor an und fuhr langsam auf dem immer noch verschneiten Feldweg davon. Das Mädchen wartete, bis der Wagen
     einen Hügel hinaufgeschlichen und von dem dünnen Spalt zwischen Himmel und Horizont verschluckt worden war.
    Sie hatte Glück; die Haustür war unverschlossen. Manon ging ins Innere der Kate und schaute sich um. Mit einer solchen Gier
     nahmen ihre Augen die neue Umgebung auf, dass man meinen konnte, sie hätten nie zuvor eine menschliche Behausung gesehen.
     Alles fasste sie an, über jeden Stuhl, über jeden Teller ließ sie ihre Finger gleiten, sie sank auf den Boden, schnupperte
     an den hölzernen Dielen, sog tief den Geruch des Bohnerwachses ein, trank einen Rest Kaffee, leckte die Tasse aus und fuhr
     dann mit der Zunge über den Küchentisch, wo ein paar Brotkrumen vom Frühstück der Frau übrig geblieben waren. Einmal erschrak
     sie, als eine Katze sich unverhofft an ihrem Bein rieb. Sie schrie und trat nach dem Tier, doch als nichts weiter geschah,
     beruhigte sie sich und setzte ihre Erkundungen fort. Im Brotkasten fand sie den vertrockneten Rest eines Weißbrotes, den sie
     nach draußen trug, um ihn im Schnee aufzuweichen und an Ort und Stelle zu vertilgen. Sie entdeckte einen Krug Milch und trank
     ihn in einem Zug aus, sie öffnete den Kühlschrank, verschlang einen halben Ring |15| Fleischwurst, einen Kanten Käse, bis endlich ihr Hunger gestillt war. Dann ging sie ins Schlafzimmer, legte sich ins Bett,
     hüpfte darin herum, stand wieder auf, um den Kleiderschrank zu durchstöbern, riss Blusen und Röcke heraus, streifte sich eine
     Unterhose über den Kopf, zog eine Strickjacke verkehrt herum an und wäre vor Schreck fast gestorben, als sie ihr Bild im Spiegel
     erblickte.
    Minutenlang stand sie starr und schaute sich an. Dann schloss sie die Augen und begann zu zittern. Ihr Körper bebte vor Angst,
     und doch schien ihr der Mut zu fehlen, sich einfach umzuwenden und dem Spuk ein Ende zu bereiten. Erst als sie merkte, dass
     das fremde Wesen offenbar nicht die Absicht hatte, sie anzugreifen, wagte sie es, die Augen wieder zu öffnen. Sie hob die
     Hand, sie neigte den Kopf, sie streckte die Zunge heraus und musste lachen, als sie jede ihrer Bewegungen verdoppelt fand.
     Bald war sie kühn genug, dass sie das andere Mädchen berühren wollte. Als sie aber die Hand hob, um ihm über die Wange zu
     streicheln, und nichts als kaltes Glas fühlte, wurde Manon böse. Aufgeregt tastete sie die gesamte Fläche ab, bis ihr klar
     wurde, dass man sie betrogen hatte. Voller Wut schlug und trat sie auf den Spiegel ein und hörte erst damit auf, als ihre
     Zehen schmerzten und die Knöchel ihrer Hand bluteten. Dann
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