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Commissario Montalbano 11 - Die Flügel der Sphinx

Commissario Montalbano 11 - Die Flügel der Sphinx

Titel: Commissario Montalbano 11 - Die Flügel der Sphinx
Autoren: Andrea Camilleri
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Eins
    Wohin nur waren die frühen Morgenstunden entflohen, in denen er sich schon beim Aufwachen wie von einem reinen, grundlosen Glück durchströmt fühlte? Dabei ging es gar nicht darum, dass der Tag sich wolkenlos, windstill und nur voll Sonnenschein zeigte, nein, es war ein völlig anderes Empfinden, das nichts mit seiner Neigung zur Wetterfühligkeit zu tun hatte; wenn man es erklären wollte, war es, als hätte er sich in Einklang mit der gesamten Schöpfung befunden, in vollkommener Übereinstimmung mit der großen Sternenuhr, die genau in der Mitte des Weltenraums angebracht war, just an dem Punkt, der vom Augenblick seiner Geburt an für ihn bestimmt war. Blödsinn? Fantastereien? Möglicherweise. Doch was sich nicht wegdiskutieren ließ, war, dass er dieses Gefühl früher häufig hatte, während es jetzt schon seit einigen Jahren einfach weg war. Verschwunden. Ausgelöscht. Genauer gesagt, riefen die ersten Morgenstunden jetzt oft Unbehagen in ihm hervor, einen instinktiven Widerwillen gegenüber dem, was ihn erwartete, wenn er sich denn mit der Aussicht auf den neuen Tag abgefunden hatte, auch wenn ihm im Lauf des Tages gar nichts Schlimmes begegnete. Und die Bestätigung dafür lieferte sein Befinden unmittelbar nach dem Aufwachen.
    Jetzt öffnete er die Augenlider nur kurz und schloss sie gleich wieder und verharrte so noch ein paar Sekunden im Dunkeln, wohingegen er früher, sobald er die Augen aufschlug, sie auch offen hielt, ja, sie sogar beinahe aufriss, um gierig das Licht des Tages einzufangen.
    Das, dachte er, hat ganz sicher etwas mit dem Alter zu tun.
    Doch gegen diese Feststellung rebellierte auf der Stelle Montalbano Nummer zwei.
    Denn schon seit ein paar Jahren lebten im Commissario zwei Montalbanos, die unentwegt im Clinch miteinander lagen. Sobald der eine etwas sagte, behauptete der andere das Gegenteil. Und so war es auch jetzt. »Was soll denn das mit dem Alter?«, sagte Montalbano Nummer zwei. »Wie kann es denn sein, dass du dich mit sechsundfünfzig alt fühlst? Willst du die wahre Wahrheit hören?«
    »Nein«, sagte Montalbano Nummer eins. »Ich sag sie dir aber trotzdem. Du willst dich alt fühlen, weil es dir in den Kram passt. Und weil du deiner selbst überdrüssig geworden bist, zimmerst du dir jetzt dieses Alibi mit dem Alter zurecht. Aber wenn du dich so fühlst, warum reichst du dann nicht als Allererstes eine schöne schriftliche Kündigung ein und schaffst dir alles vom Hals?«
    »Und was mache ich dann?«
    »Du spielst den Alten, schaffst dir einen Hund an, der dir Gesellschaft leistet, gehst morgens raus, kaufst die Zeitung, setzt dich auf eine Bank, lässt den Hund von der Leine und fängst an zu lesen, am besten zuerst die Todesanzeigen.«
    »Wieso denn die Todesanzeigen?«
    »Weil es dir gleich ein bisschen besser geht, wenn du liest, dass irgendeiner in deinem Alter gestorben ist, während du noch einigermaßen lebendig bist. Das hilft dir schon mal über die nächsten vierundzwanzig Stunden hinweg. Nach einem Stündchen…«
    »Nach einem Stündchen geht dir das ungeheuer auf den Sack, dir samt deinem Hündchen«, sagte Montalbano Nummer eins, ganz gelähmt von dieser Aussicht. »Na, dann steh auf, geh zur Arbeit und trample einem nicht auf den Eiern rum«, sagte Montalbano Nummer zwei resolut.
    Während er unter der Dusche stand, klingelte das Telefon.
    So, wie er war, ging er an den Apparat und hinterließ eine nasse Spur von Fußabdrücken. Später würde ja Adelina kommen und sauber machen.
    »Dottori, ich hab Sie doch nicht geweckt?«
    »Nein, Catare, ich war schon wach.«
    »Ist das auch ganz wirklich wahr, Dottori? Sie sagen das nicht nur aus Höflichkeit?«
    »Nein, mach dir keine Sorgen. Was gibt's denn?«
    »Was soll's schon geben, Dottori, wenn ich Sie so früh am Morgen anrufe?«
    »Ist dir eigentlich klar, Catare, dass du nie gute Nachrichten für mich hast, wenn du mich anrufst?« Augenblicklich schlug Catarellas Tonfall ins Weinerliche um.
    »Ah, Dottori, Dottori! Warum sagen Sie so was zu mir? Wollen Sie auf mir herumhacken? Wenn's nach mir gehen täte, würde ich Sie jeden Morgen mit einer guten Nachricht aufwecken, was weiß ich, dass Sie drei Milliarden im Lotto gewonnen haben, dass man Sie zum Questore ernannt hat, dass …«
    Montalbano hatte gar nicht gehört, dass die Tür aufgegangen war, und sah sich plötzlich Adelina gegenüber, die ihn anstarrte, die Schlüssel noch in der Hand. Wieso war sie so früh gekommen? Er dreht sich beinahe
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