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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen
Autoren: Jan Seghers
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Ehefrau
     sie vor einigen Jahren auf dem Postamt zur Rede gestellt hatte, hatte Madame Fouchard ihr mit fester Stimme erwidert, dass
     es ganz allein das Problem des Ehepaares sei, wie es solche Dinge untereinander regele, sie selbst habe nichts als ihr Vergnügen
     im Sinn und erhebe keine weiteren Ansprüche. Fortan |19| ließ man die Witwe in Ruhe, mehr noch, man sprach mit Respekt von ihr, unter den sich zuweilen sogar ein Ton der Bewunderung
     mischte.
    Als Madame Fouchard festgestellt hatte, dass weder Geld noch Wertgegenstände fehlten, nahm sie an, dass es sich bei dem Einbrecher
     entweder um einen hungrigen Landstreicher gehandelt habe oder aber um einen Dummejungenstreich. Um die entlaufenen Tiere machte
     sie sich keine Gedanken; sobald sie Hunger bekamen, würden sie sich wieder einfinden oder aber im Laufe der nächsten Tage
     von einem der benachbarten Bauern zurückgebracht. Der Schaden hielt sich in Grenzen, und so war die Witwe schon bereit, dem
     Vorfall keine weitere Bedeutung beizumessen, als sie in der hinteren Ecke des Stalls ein schmutziges Bündel entdeckte. Erstaunt
     blieb sie stehen, dann ging sie zurück zum Eingang, um die Tür ein Stück weiter zu öffnen. Das Sonnenlicht fiel jetzt direkt
     auf Manons Gesicht, und das schlafende Mädchen begann, sich zu regen. Instinktiv und ohne ihren Blick von dem unbekannten
     Wesen abzuwenden, griff Madame Fouchard nach der Forke, die neben der Eingangstür stand, und rief: «He, du, was hast du hier
     zu suchen?» Und als nichts geschah, wiederholte sie ihre unsinnige Frage, diesmal noch ein wenig lauter: «He, du, was machst
     du da?»
    Geblendet vom grellen Licht, legte Manon sich die Hand vor die Augen. Die Stimme der fremden Frau klang in ihren Ohren nicht
     anders als das Bellen eines Hundes. Sie verstand die Worte nicht. Es jagte sie auf und in die Ecke. Das Fieber war erneut
     gestiegen, und sie drückte sich zitternd an die rückwärtige Wand des Stalls. Das Holz trieb ihr Splitter in die Haut und unter
     die Fingernägel, so sehr verkrallte sie sich in die grob gezimmerten Latten. Das Mädchen öffnete weit den Mund, sodass es
     für einen Moment einer schreienden Katze glich, aber es entwich ihm kein Laut, und Madame Fouchard |20| wusste nicht zu deuten, ob es sich um eine Gebärde der Angst, des Schmerzes oder um eine Drohung handelte.
    Eine Weile verharrte die Witwe noch an der Stalltür, bis sie sich schließlich ein Herz fasste, ein paar Schritte auf das Mädchen
     zuging und nun besänftigend auf es einsprach. Nach und nach wurde Manon ruhiger. Während ihr Körper noch vom Fieber geschüttelt
     wurde, legte sie den Kopf auf die Schulter und betrachtete mit glasigen Augen jene Frau, die sich ihr als Silhouette näherte,
     sich nun zu ihr hinabbeugte, die Hand nach ihr ausstreckte und ihr über die struppigen Haare strich. Noch einmal bäumte sie
     sich auf, schlug nach dem großen Schatten, dann verließen sie die Kräfte, und sie sackte zurück auf den stroh- und kotbedeckten
     Boden.
    Madame Fouchard hob das Bündel auf, trug es ins Haus und legte es, schmutzig und stinkend, wie es war, in ihr Bett. Dann rief
     sie erneut bei der Gendarmerie an und sagte, die Sache habe sich erledigt, sie wolle von einer Anzeige absehen, da sie nach
     genauerer Inspektion des Hauses zu der Überzeugung gekommen sei, dass die kleine Unordnung, die sie nach ihrer Rückkehr vorgefunden
     habe, eher auf ein streunendes Tier als auf einen Einbrecher zurückzuführen sei. Der Dienst habende Polizist wunderte sich
     zwar, gab sich aber gerne mit dieser Erklärung zufrieden, denn er hatte mit den Verkehrsunfällen der letzten Tage mehr als
     genug zu tun und war froh, nicht auch noch die Fahrt zum abgelegenen Hof der Witwe Fouchard vor sich zu haben.
     
    Das Mädchen schlief ohne Unterbrechung den Rest des Tages, die ganze folgende Nacht und auch den nächsten Vormittag. Als Manon
     gegen Mittag für wenige Minuten aufwachte, saß die Witwe neben ihr und hielt ihre Hand. Sie war zu schwach, um sich dieser
     Fürsorge zu erwehren, und ließ es ebenfalls geschehen, als ihr die Frau eine Tasse mit warmem |21| Kamillentee an die Lippen setzte und dabei mit ruhiger Stimme auf sie einredete. Immer, wenn sie jetzt aufwachte, saß die
     Witwe neben ihr, und so könnte man sagen, sie habe sich im Schlaf an ihr neues Zuhause gewöhnt, denn nichts anderes sollte
     der Hof von Madame Fouchard in der nächsten Zeit für sie werden.
    Als Manon wieder so weit bei
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