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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen
Autoren: Jan Seghers
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die Frauen die Augenbrauen hoch,
     zwar stießen die Männer einander an und pfiffen leise durch die Zähne, zwar versuchte im Laufe des Abends der ein oder andere,
     der bei Manons Anblick nicht sofort resignierte, mit ihr anzubändeln, aber am Ende ließ die Aufmerksamkeit für das Mädchen
     nach. Die Legenden, die in kürzester Zeit über das fremde Mädchen verbreitet worden waren, hatten die Vorstellungen von Manons
     Schönheit so ins Unermessliche wachsen lassen, dass ihre wirkliche Erscheinung dagegen verblassen musste. Freilich, sie war
     schön, schöner als alle Frauen, die man je in der Gegend gesehen hatte. Aber ihr fehlte jenes Leuchten einer Göttin, das man
     erwartet hatte, jene Aureole der Stars, der Schaupielerinnen, die man aus dem Fernsehen kannte. Manon schien vielmehr bescheiden,
     fast unsicher zu sein und widersprach schon deshalb den Vorstellungen der Leute, die als wirklich groß nur jemanden gelten
     ließen, der sich über sie erhob.
    Allein Jean-Luc Girod, einziger Sohn und damit Erbe des reichsten Winzers der Gegend, Ende zwanzig und ein ebenso schüchterner
     wie begehrter Junggeselle, ließ den ganzen Abend kein Auge von Manon. Immer wieder forderte er sie, zur größten Verwunderung
     seiner Freunde, zum Tanzen auf, bekam ebenso oft einen Korb, lud dennoch das Mädchen und die Witwe zu einem Glas Crémant ein,
     eine Freude, die sie ihm, er flehe sie an, keinesfalls abschlagen durften. Er machte Madame Fouchard Komplimente und drohte
     oder versprach, |27| je nachdem, wie man es sehen wollte, dass man ihn gewiss nicht so schnell wieder loswerde. Binnen weniger Stunden schien derselbe
     Jean-Luc, der errötet war, wenn der Lehrer eine Antwort von ihm hatte haben wollen, den die Kameraden für seine Schüchternheit
     gequält und verspottet hatten, ein anderer Mensch geworden zu sein – als habe er all seinen Witz, seinen Mut und Charme über
     Jahre hinweg in sich verschlossen, um auf diesen einen warmen Sommerabend zu warten, an dem die Musik schönere Lieder spielen,
     an dem der Wein besser schmecken würde als je zuvor. Und an dem ihm Manon begegnen würde.
    Mit seinem großen, schlanken Wuchs, dem dichten, schwarzen Haar und den dunklen Augen, die so warm wie undurchdringlich waren,
     glich er äußerlich zwar seinem Vater, hatte aber seinen Charakter unter dem Eindruck von dessen brachialem Naturell zum genauen
     Gegenteil entwickelt. Während der Alte, der in der Gegend nur «Le Comte» genannt wurde, seine Geschäftspartner mit der gleichen
     Rücksichtslosigkeit behandelte wie seine Frau und den Sohn, war Jean-Luc, der zunächst ein sehr aufgewecktes Kind gewesen
     war, im Lauf der Jahre immer stiller und damit seiner Mutter immer ähnlicher geworden. So leise war er, dass man ihn manchmal
     vergaß und Madame Girod vor Schreck zusammenfuhr, wenn er sich wieder angeschlichen hatte und unverhofft hinter ihr stand.
     Statt mit den anderen Jungen auf den Fußballplatz zu gehen, statt im Sommer von den Klippen in den See zu springen und im
     Winter mit Skiern den Todeshügel hinunterzusausen, streifte Jean-Luc allein durch den Wald, um das Wild zu beobachten, oder
     saß daheim und ließ sich von seiner Mutter verwöhnen. Verlassen hatte er sie nur während der Zeit des Militärdienstes, den
     er in einer kleinen Stadt in der Normandie ableistete und wo er bald auf eigenen Wunsch einem Spähtrupp zugeteilt wurde. Seine
     Vorgesetzten waren |28| zufrieden mit ihm, aber als sein Dienst beendet war, kehrte er nach Hause zurück. Mutter und Sohn bildeten ein verschworenes
     Duo, das verstummte, wenn der Alte sich näherte, das aber tuschelte und kicherte, wenn er endlich wieder außer Haus war. Längst
     hatte Madame Girod aufgehört, sich wegen der Saufgelage und der außerehelichen Eskapaden ihres Mannes zu grämen, längst hatten
     sie auch getrennte Schlafzimmer. Sein Essen nahm Monsieur sowieso nur noch am Wochenende zu Hause ein: am Samstagmittag, bevor
     er mit seinen Kumpanen loszog, um die Nacht in den Bars und Bordellen von Straßburg, St. Dié oder Sélestat zu verbringen,
     und vierundzwanzig Stunden später, wenn er, gezeichnet von den nächtlichen Ausschweifungen, verkatert und zerknirscht aus
     seinem Zimmer kam und sich von seiner Frau eine Consommé und zwei halbrohe Steaks servieren ließ, schließlich einen Cognac
     trank, ihr unter Tränen seine Liebe beteuerte und schwor, dass die vergangene Nacht nun aber wirklich die letzte ihrer Art
     gewesen sei. Nur, um am
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