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Ein allzu schönes Mädchen

Titel: Ein allzu schönes Mädchen
Autoren: Jan Seghers
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sie mit der gleichen Aufmerksamkeit wie die Geschichte der Kreuzzüge, den Fortsetzungsroman in
     einer Illustrierten mit der gleichen |24| Neugier wie eine Biographie Ludwigs des Vierzehnten oder die «Gefährlichen Liebschaften» des Choderlos de Laclos – ein Buch,
     das Madame Fouchard in einer alten Ausgabe besaß und das sie selbst als junge Frau mit ebenso viel Aufregung wie Entsetzen
     gelesen hatte. Manon hingegen, egal, welche Schlachten in ihren Büchern geschlagen wurden, welche Schicksale und Leidenschaften
     ihre Helden durchlebten, zeigte keinerlei Regung. Stundenlang fuhr sie mit dem Finger über die roten Linien der Straßen auf
     den Landkarten, die sie immer wieder aus dem Schuhkarton hervorkramte, der in der Küche unter der Eckbank stand, folgte den
     Windungen der Flüsse, verlor sich in den dichten Wäldern und machte Rast auf dem Gipfel eines Berges. Während die Witwe Früchte
     einkochte, Rahm schöpfte oder das Essen bereitete, memorierte Manon still für sich die Namen der Orte, die sie mit den Augen
     und dem Zeigefinger besucht hatte, und bald wäre sie in der Lage gewesen, nicht nur die Topographie Frankreichs, sondern des
     gesamten Europa vom Finisterre bis zum Ural, vom Nordkap bis Gibraltar mit allen Details aus dem Gedächtnis aufzuzeichnen.
     Dann wieder saß sie tagelang mit derselben Hingabe über dem «Großen Atlas des menschlichen Körpers» und betrachtete die Farbtafeln,
     auf denen das Geschlinge des Darms, die bläulich-rote Muskulatur, das bleiche Knochengerüst oder ein Querschnitt des Hirns,
     des Herzens, der Leber und der Nieren abgebildet waren. Sie merkte sich so komplizierte Begriffe wie «Ribonukleinsäure», «Leukozytose»
     und «Primärfollikel», als seien sie nichts anderes als die Worte Baum, Stein und Haus.
    So viel sie auch las, hatte sie doch nie das Bedürfnis, über ihre Lektüre zu sprechen. Wenn die Witwe wissen wollte, wie ihr
     dieser oder jener Roman gefallen habe, zuckte Manon mit den Schultern, und wenn sie gefragt wurde, was sie als Nächstes lesen
     wolle, sagte sie nur: «Egal, irgendwas.» Sie nahm das |25| Wissen der Welt in sich auf, ohne dass sie zu erkennen gab, ob sie das, was sie soeben an Neuigkeiten erfahren hatte, begeisterte
     oder abstieß oder ob sie es auch nur verstanden hatte. Sie kannte keinerlei Wertigkeiten. Ein Wort wie Sehnsucht bedeutete
     ihr nicht mehr oder weniger als die Bezeichnung für einen toten Gegenstand, mit dem Begriff Trauer verband sie so wenig ein
     Gefühl wie mit dem Namen einer fremden Stadt.
    Nur einmal, sie hatte sich tagelang in ihren Büchern vergraben und kaum ein Wort gesprochen, hob sie den Kopf und fragte mit
     brüchiger Stimme: «Tante Celeste, was ist Liebe?»
    Die Witwe überlegte einen Moment, dann sagte sie: «Es gibt niemanden, der dir auf diese Frage eine Antwort geben kann. Aber
     glaub mir, wenn du das erste Mal wirklich liebst, dann wirst du dir diese Frage nicht mehr stellen. Du wirst einfach lieben,
     und es wird dir ganz egal sein, was die Liebe ist.»
     
    Schon wenige Wochen nachdem sie auf dem Hof der Witwe angekommen und bevor sie noch das erste Mal im Dorf gewesen war, hatte
     sich der Ruf von Manons Schönheit bereits verbreitet. Die wenigen Menschen, die sie bisher zu Gesicht bekommen hatten – der
     Postbote, ein benachbarter Bauer, ein paar Jugendliche   –, hatten die Nachricht von «der Neuen», deren Anblick einem den Atem raube und das Herz stocken lasse, weitergetragen und
     so die Neugier der Leute – und vor allem der jungen Männer – angestachelt. Um dem Gerede und den Spekulationen ein Ende zu
     machen, beschloss die Witwe, die sich ansonsten vom dörflichen Leben so weit es ging fernhielt, gemeinsam mit Manon das Dorffest
     zu besuchen, das, wie jedes Jahr, am ersten Juliwochenende stattfinden würde. Während im Ort das Festzelt aufgebaut, die Straßen
     und Häuser geschmückt und in den Nachbardörfern Plakate aufgehängt wurden, holte Madame Fouchard ihre Nähmaschine aus der
     Kammer und begann ein ebenso schlichtes wie bequemes |26| Sommerkleid aus roter Baumwolle für das Mädchen zu nähen. Und tatsächlich zeigte sich auf Manons Gesicht, als sie das neue
     Stück zum ersten Mal anprobierte und sich unter den bewundernden Blicken der Witwe vor dem Spiegel drehte, zum ersten Mal
     so etwas wie der Schatten eines Lächelns, eine stille, fast unmerkliche Freude.
    Manons Auftritt auf dem Fest zeigte die von Madame Fouchard erhoffte Wirkung. Zwar zogen
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