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Heidelberger Lügen

Heidelberger Lügen

Titel: Heidelberger Lügen
Autoren: Wolfgang Burger
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    Hätte sie das Kind nicht bei sich gehabt, wäre mir vielleicht manches erspart geblieben.
    Frau Brenneisen, die auf dem Heidelberger Wilhelmsplatz seit Jahrzehnten einen Kiosk betrieb, machte mich auf die magere, schwarzhaarige Frau aufmerksam. Sie trug ein Baby im Arm und war offensichtlich gestrandet. Ich war unterwegs zu meiner abendlichen Joggingrunde, als Frau Brenneisen mich zu sich winkte.
    »Sie hat ihr Auto verloren!«, flüsterte sie mit Verschwörerblick. »Zwei Stunden hockt sie jetzt schon auf dieser Bank. Ich hab ihr einen Tee angeboten, aber sie wollte keinen. Sie hat kein Geld, sagt sie, und geschenkt nimmt sie nichts. Das arme Kindchen hat doch bestimmt Hunger. Könnten Sie der Frau nicht helfen, Herr Gerlach? Sie sind doch schließlich Polizist.«
    »Wie um Himmels willen kann man ein Auto verlieren?«, erwiderte ich mürrisch. »Außerdem bin ich bei der Kripo und nicht beim Fundbüro.«
    Nein, ich hatte nicht die geringste Lust, heute irgendwem zu helfen. Um mein Gewissen ein wenig zu beruhigen und meinen Frust abzureagieren, hatte ich vor, eine Runde zu laufen. Anschließend wollte ich ein Glas Rotwein trinken und keinen Menschen mehr sehen.
    Die Frau mit dem Kind wirkte nicht wie eine Obdachlose, aber Haltung und Miene strahlten eine solche Hoffnungslosigkeit aus, dass ich gar nicht hinsehen mochte. Mit starrem Blick wiegte sie ihr unentwegt quengelndes Kind, als wäre es alles, was ihr auf der Welt noch geblieben war. Nein, ich wollte nicht mit ihr reden. Ich hatte kein Interesse an traurigen Geschichten. Und zudem kann ich Frauen nicht ausstehen, die diesen Schlag-mich-nicht-Blick haben. Aber sie hielt ein Kind in den Armen. Fast noch ein Säugling, acht, vielleicht zehn Monate alt. Nur deshalb lief ich nicht fort.
    Aus dem Kiosk roch es verführerisch nach Frau Brenneisens Bockwürsten, von denen sie schwor, es seien die besten der Welt. Aber heute würde ich stark bleiben. Diät war angesagt, hatte mir meine Waage heute Morgen unmissverständlich erklärt. Inzwischen lag ich drei Kilo über meinem absoluten Maximalgewicht. Auch wenn Frau Brenneisen meinte, alle Menschen nähmen im Winter zu, ab heute war Schluss mit dem Lotterleben.
    Eine Straßenbahn hielt an der Haltestelle neben dem Kiosk, fuhr weiter. Das Wimmern des Kindes wurde lauter, drängender. Seufzend gab ich mich geschlagen. Ich ging hinüber zu diesem seltsamen Paar.
    »Kann man Ihnen irgendwie helfen?«
    Nach einem verschreckten Blick sah die Frau sofort wieder zu Boden. Ihr zotteliges Haar wirkte, als hätte sie es eigenhändig und ohne jedes Talent geschnitten. Ihr langes, hellblaues Kleid war zu leicht für die Jahreszeit. Im Lauf des Nachmittags hatte zwar ein wenig die Sonne geschienen, aber gegen Abend war es so kühl geworden, dass ich sogar im warmen Jogginganzug fröstelte. Immerhin schrieben wir Anfang Februar, von Frühling noch keine Spur.
    »Es ist wegen meinem Mann«, murmelte sie. »Er ist tot.«
    Selbst das hübsche Kleid wirkte an dieser Frau trist und billig. Das Kind starrte mich mit großen Augen an. Hatte sie meine Frage nicht verstanden? Ich versuchte es noch einmal, diesmal deutlicher:
    »Es gibt ein Problem mit Ihrem Auto, habe ich gehört?«
    »Es ist weg. Wie sollen wir denn jetzt heimkommen?« Die Frau war wirklich nicht der Typ, nach dem Männer sich auf der Straße umdrehen. Im Gegenteil, sie zählte zu den Menschen, die man noch übersieht, wenn man sie im Gedränge schon angerempelt hat, und die sich dann auch noch dafür entschuldigen, dass sie im Weg waren. Ich merkte, wie ihre kraftlose Art mich aggressiv machte.
    »Wie genau haben Sie denn Ihr Auto … verloren?«
    »Ich habe irgendwo hier geparkt, weil Björn auf einmal Hunger hatte.« Sie schaukelte das Kind stärker, als würde sie allmählich wieder zum Leben erwachen. »Da drüben an der großen Straße habe ich eine Tüte Kekse für ihn gekauft, Amarettini, die mag er so gern, und dann habe ich das Auto einfach nicht mehr gefunden. Ich kann mich nicht erinnern, wo ich geparkt habe. So was passiert mir dauernd. Ich habe keinen Orientierungssinn, hat mein Mann immer gesagt. Über eine Stunde lang habe ich Björn kreuz und quer durch die Straßen geschleppt, aber …« Als könnte sie ihre Schusseligkeit selbst nicht fassen, schüttelte sie den Kopf. »Ich kann es nicht wiederfinden. Ob es gestohlen ist?«
    »Haben Sie es schon bei der Polizei versucht?«
    Die Antwort war ein verzagtes Nicken. Vermutlich hatte ein weniger feinfühliger
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