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Das Herz meines Feindes

Das Herz meines Feindes

Titel: Das Herz meines Feindes
Autoren: Rexanne Becnel
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    September 1273
    Die Sonne tauchte den Schlosshof in goldenes Licht. Ihre Strahlen fingen sich im Staub, den die Ritter bei ihren Waf fenübungen aufgewirbelt hatten. Wieder und wieder waren sie mit ihren Pferden über die trockene, gestampfte Erde geprescht, bis ihre Körper vor Schweiß glänzten und ihnen die Arme so schwer waren, dass sie sie kaum mehr heben konn ten. Erst jetzt hatten sie mit ihren Waffe n übungen aufgehört, erschöpft und doch befriedigt von ihrem Tagwerk.
    Während Lady Lilliane of Orrick über den jetzt leeren Schlosshof schritt, glaubte sie fast, die Rufe der Männer noch immer hören zu können: ihre Siege s schreie, ihre Flüche bei einer Niederlage. Orrick hatte sich nicht verändert, man hät te fast glauben können, dass sie nicht zwei lange Jahre fort gewesen wäre. Und doch gab es Unterschiede zu früher, dachte sie, als sie auf die große Kastanie zuging, die im hin teren Teil des Schlosshofes Schatten spendete.
    Die Männer waren nicht von ihrem Vater befehligt wor den, denn er war nicht länger der kräftige, gesunde Mann ih rer Jugendjahre. Sir Aldis hatte Orricks Ritter unterwiesen. Ihre Schwester Odelia hatte ihn kurz vor Lillianes Abreise geheiratet, und obwohl ihr Vater seinem Schwiegersohn die Verwaltung des Schlosses noch nicht offiziell übertragen hatte, befürchtete Lilliane, dass es nur eine Frage der Zeit war.
    Doch man musste auch an den zukünftigen Gatten der jungen Tullia denken. Sie heiratete in vier Tagen Sir Santon, und es war gut möglich, dass dieser ebenfalls Ansprüche auf das Verwalteramt geltend machen würde. Und doch spürte Lilliane, dass ihr Vater keinen der beiden jungen Ritter wirk lich schätzte. Aber schließlich hieß er die Männer, die seine Töchter für sich wählten, nur selten gut.
    Zwei Frauen gingen gemessenen Schrittes auf die große Em p fangshalle zu. Lilliane erkannte ihre Schwester Odelia, die andere hatte sie noch nie gesehen. Ein leichtes Stirnrunzeln zeigte sich auf ihrem sonst so heiteren Gesicht. Die Hochzeitsgäste, die aus weit entlegenen Ortschaften wie Far relton kamen, waren bereits eing e troffen, und Odelia genoss den Ruhm, den die Rolle der Gastgeberin mit sich brachte. Sie war mehr als zufrieden, dass sie die praktischen Vorberei tungen Lilliane überlassen konnte, während sie die Gäste unterhielt.
    Zuerst war Lilliane durch Odelias kühle Haltung ihr ge genüber verletzt gewesen. Es war offensich t lich, dass weder Odelia noch ihr Mann Aldis sehr erfreut über ihre Rückkehr waren. Solange sie unverheiratet blieb, waren Aldis und Odelia die Erben von Orrick Castle. Aber wenn ihr Vater nun doch einen Mann für sie fand…
    Lilliane lächelte bei diesem Gedanken spöttisch vor sich hin. Das Thema ihrer Ehe wollten weder sie selbst noch ihr Vater ansprechen. Tatsächlich waren sie ihm in den vergangenen Wochen beide sorgsam ausgewichen.
    Sie seufzte, entschlossen, Odelias schlechte Laune zu ignorieren. Tullias erfreuter Willkommensgruß hatte sie mehr als entschädigt. Wenn ihre jüngere Schwester sie nicht in einem Brief verzweifelt um Hilfe bei ihren Hochzeitsvor bereitungen gebeten hätte, wäre Lilliane in der Abtei von Burgram geblieben.
    Und doch war sie froh darüber, heimgekehrt zu sein. Lil liane ließ ihren Blick langsam über den Schlosshof schweifen, sie nahm den vertrauten Anblick in sich auf und bemerkte jede kleine Veränderung. Orrick war etwas Besonderes, das musste sie zugeben, als sie sich gegen den kräftigen Stamm des alten Baumes lehnte. All ihre Erinn e rungen waren mit diesem Schloss eng verbunden, die guten wie die schlechten. Nicht ein Tag, den sie in der Abtei verbracht hatte, war vergangen, an dem ihre Gedanken nicht nach Orrick Castle ge wandert waren.
    Diesmal würde es noch schwerer als vor zwei Jahren sein, Orrick Castle wieder zu verlassen.
    Von einem Fenster in der Empfangshalle beobac h tete Lord Barton of Orrick, wie seine älteste Tochter die Hand an die Augen führte. Weinte sie etwa? Er beugte sich nach vorn, legte seine Hand auf den Mittelpfosten und blickte angestrengt in die Richtung seiner Tochter. Er beobachtete, wie sie sich aufrichtete und auf die Wirtschaftsg e bäude zuging. Dann schlug er voller Enttäuschung auf die granitene Brü stung des Fensters.
    »Was ist dir, Vater?«
    Ohne seine Augen von der schlanken Gestalt im Hof abzuwenden, streckte Lord Barton den Arm aus, um Tullia zu sich heranzuziehen und liebevoll an sich zu drücken. Er küs ste sie auf ihre sanfte
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