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Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Titel: Tante Dimity und der Fremde im Schnee
Autoren: Nancy Atherton
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der Royal Air Force landete auf unserer Wiese und flog den Landstreicher ins Radcliffe-Hospital in Oxford, wo ihn ein Team von Spezialisten – mein Schwiegervater verfügte über hochkarätige Verbindungen – behandelte. Es stellte sich heraus, dass er neben seiner Unterkühlung auch an einer Lungenentzündung und Unterernährung litt.
    Dr. Pritchard, der leitende Arzt, hielt uns über den Zustand seines Patienten auf dem Laufenden. Um viertel nach neun teilte er uns mit, dass der Zustand des Mannes kritisch sei. Er war noch immer ohne Bewusstsein. Seinen Namen kannte man nicht. Er hatte keinerlei Papiere bei sich, und auch der Polizei war es noch nicht gelungen, ihn zu identifizieren.
    Wir hielten im Wohnzimmer schweigsame Wache. Willis senior schaute mit auf dem Rü cken gefalteten Händen aus dem Fenster auf die Lilienbüsche, Bill und ich saßen uns vor dem kalten Kaminfeuer gegenüber.
    Die Zwillinge hatten den Morgen erstaunlich ruhig und artig verbracht, so als spürten sie den Ernst der Lage. Rob saß seit einer halben Stunde auf Bills Schoß und kaute auf Reginalds linkem Ohr herum, Will hatte sich still in meine Arme gekuschelt.

    Das Sofa, auf das wir den Landstreicher gelegt hatten, war noch feucht von geschmolzenem Schnee. Ich musste es reinigen und desinfizieren lassen, ging mir durch den Kopf, bevor ich meine Söhne auch nur wieder in die Nähe des Möbels lassen würde.
    »Ich frage mich, was er hier wollte«, überlegte Bill.
    »Hauptsache, er ist in guten Händen«, sagte ich. »Wir müssen uns um ihn keine Sorgen mehr machen.«
    »Findest du es denn nicht seltsam, dass er ausgerechnet hier vorbeigekommen ist?«, fuhr Bill fort. »Das Haus liegt nicht gerade an einer Durchgangsstraße«. In der Tat befand sich das Cottage an einer versetzten, schmalen Straße, die in den meisten Karten nicht einmal verzeichnet war.
    »Vielleicht war er per Anhalter unterwegs«, meinte Willis senior. »Und der Fahrer hat ihn kurz vor seinem Ziel abgesetzt.«
    »Das bezweifle ich«, erwiderte Bill. »Unsere Straße wird doch fast nur von Anwohnern benutzt. Ich glaube nicht, dass einer unserer Nachbarn einen offensichtlich kranken Mann bei diesem Wetter einfach seinem Schicksal überlassen hätte.«

    Willis senior schürzte die Lippen. »Willst du damit sagen, dass der Gentleman mit der Absicht hierher kam, einen von euch zu besuchen?«
    »Das ist doch Unsinn«, meinte ich. »Weder Bill noch ich kennen irgendwelche Landstreicher.«
    »Das nicht«, sagte Bill. »Aber vielleicht wollte er zu …« Er unterbrach sich und lauschte. »Hört ihr auch Glocken?«
    Ein Lächeln huschte über Willis seniors Gesicht, als er aus dem Erkerfenster schaute. »Lady Eleanor beehrt uns.«
    Lady Eleanor, die ansonsten eher als Nell Harris bekannt war, wohnte mit ihrem Vater und ihrer Stiefmutter, Derek und Emma Harris, etwas weiter die Straße hinauf, in jenem Herrenhaus aus dem vierzehnten Jahrhundert, Anscomb Manor, in dem ich auch meine Weihnachtsgäste unterbringen wollte. Nell war dreizehn Jahre alt, groß, gertenschlank, äußerst gewitzt und von geradezu himmlischer Schönheit. Den meisten Erwachsenen jagte sie eine Heidenangst ein, aber Willis senior verehrte den Boden, auf dem sie ging.
    Ich trug Will zum Fenster und beobachtete, wie Nell eintraf, mit ihrem üblichen Schwung.
    Sie kam aus dem Seitenpfad, in einem einspännigen offenen Schlitten. Auf dem Rücksitz saßen zwei Passagiere, neben ihr Bertie, ihr schokobrauner Teddybär.
    Nells Mitfahrer erkannte ich sofort, denn sie glichen einander wie ein Ei dem anderen. Ruth und Louise Pym waren in der Tat Zwillingsschwestern, alt genug, um sich noch daran zu erinnern, wie »unsere Jungs« damals abmarschierten, hin zu den blutgetränkten Feldern Flanderns. Sie waren erstaunlich munter, äußerten sich gerne etwas nebulös und trugen stets identische Kleidung.
    Heute sahen sie aus, als seien sie einem Gemälde von Currier und Ives entsprungen. Sie hatten sich in taillierte Mäntel aus feinster Wolle gehüllt, deren wattierte Schultern mit schwarzer Spitze versehen waren. Ihre zarten Hände steckten in Muffs aus weißem Kaninchenfell, Federhauben schützten ihre Köpfe. Die zweifellos praktischen Gummistiefel an ihren Füßen passten allerdings gar nicht zu diesem Aufzug.
    Während Nell ihr Pferd in den Schuppen führte, den ihr Vater am Ende des Pfads gebaut hatte, huschten die Pyms über den schneebedeckten Plattenweg. Ich übergab Will seinem Großvater und eilte zur Tür,
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