Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rasheed, Leila

Rasheed, Leila

Titel: Rasheed, Leila
Autoren: Rueckkehr nach Somerton Court
Vom Netzwerk:
Prolog
    Auf See – Spätsommer 1912
    Lady Ada Averley lehnte an der Reling der Moldavia . Sie spürte das vibrierende Brummen der riesigen Motoren im Stahlleib des Schiffes, ein rhythmisches Auf und Ab wie das Atmen eines Riesen. Das schwarze Wasser warf glitzernd das Sternenlicht zurück. Der Wind zauste Adas dunkle Locken, die ihre blassen Züge umrahmten; sie war ihrer verstorbenen Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, aber die grauen Augen und das stolz gereckte Kinn waren Averley pur.
    Dieser Dampfer hatte schon so manche junge Engländerin nach Indien verfrachtet, wie alle sonstigen Bedarfsartikel, die in den Kolonien knapp waren. Seltener brachte er sie wieder zurück. Sogar noch seltener war die betreffende Engländerin so attraktiv und begehrenswert wie Lady Ada, die älteste Tochter des Earls von Westlake.
    Die wild romantischen Küsten Italiens hatten sie schon hinter sich gelassen; heute Nacht würden sie die Meerenge von Gibraltar passieren. Vor Ada lagen England und die Aussicht auf ihre erste Saison im nächsten Frühling. Aber sie freute sich nicht auf die Bälle und die Aufmerksamkeiten junger Männer.
    Ihre Gedanken waren so unruhig wie die See. Sie wusste, was die Freundinnen ihrer verstorbenen Mutter über sie sagten. »Bemerkenswert schön«, waren sie sich einig, »aber viel zu ernst.« Was auch verständlich sei bei dem tragisch frühen Tod ihrer Mutter und der Verantwortung für ihre zarte jüngere Schwester, die sie nun trug.
    Aber das war noch nicht alles. Ihr Vater hatte von seinem Posten als Vizegouverneur zurücktreten müssen, was ihren Sorgen eine weitere hinzufügte. Ihre Schwester Georgiana war zu jung und vom Wesen her zu unbeschwert, um den Ernst der Gerüchte zu erfassen, die wie Papierdrachen in den Lüften kreisten, aber Ada begriff, was solche Gerüchte kurz vor ihrer ersten Saison für sie bedeuteten. Zumindest die anderen Debütantinnen würden erleichtert sein: Jede Mitstreiterin, die aus dem Rennen schied, erhöhte die eigenen Chancen.
    Es schien, als hätten Adas Eltern ihre Mühen, sie zu einer perfekten Lady zu erziehen, an ihr verschwendet. Sie wusste genau, dass es unziemlich war, um Mitternacht auf dem Deck der ersten Klasse herumzuspazieren, ohne Hut, ohne Handschuhe und ohne Anstandsdame. Aber sie konnte nicht schlafen. Nach den endlosen Tagen auf See fühlte sie sich sogar in der luxuriösen Kabine wie eingesperrt, aber weder die Enge noch die Aussicht auf die frische Meeresbrise hatten sie aufs Deck getrieben, sondern das nagende Bewusstsein, dass sie mit diesem Schiff nicht nur England entgegenfuhr, sondern auch einem neuen Leben – ihrem Leben als Erwachsene. Wenn sie im Hafen einliefen, wäre sie von der Moldavia befreit, um vielleicht ein noch erdrückenderes Gefängnis dagegen einzutauschen. So viel hing von den nächsten Monaten ab und davon, ob sie ihren Vater überzeugen konnte, ihre Träume vom Studieren ernst zu nehmen. Würde sie ihn dazu bringen können, ihr ein Studium zu ermöglichen?
    In der bloßen Hand hielt sie einen aus der Times herausgerissenen Artikel zum Wahlrecht der Frau, verfasst von Lord Fintan, der für die Liberalen im Oberhaus saß. Sie hatte den Artikel im hellen Mondlicht lesen wollen, ihn über dem Grübeln aber ganz vergessen. Jetzt wirbelte ihr der Wind das Papierstück aus den Fingern, und es flatterte über das Deck davon. Ada stieß einen Schrei aus und rannte ihm nach.
    Es wehte zu den Rettungsbooten hinüber, die große schwarze Schatten warfen. Dort, über der Reling, glühte im Dunkeln ein roter Stern. Das Papier hob sich in die Höhe. Ada griff danach.
    Plötzlich roch es nach Zigarre, dann verdichtete sich das Dunkel und Ada prallte gegen etwas Weiches, Warmes. Vor Schreck schrie sie leise auf – erst, nachdem sie in ihn hineingelaufen war, nahm sie den Mann wahr, der im Schatten der Rettungsboote stand.
    Er trat ins Mondlicht hervor. Sie blickte in das schöne, markante Gesicht eines dunkelhäutigen jungen Mannes mit weiß schimmernden Zähnen. Er lächelte. In der einen Hand hielt er ihren Artikel, mit der anderen stützte er sie, damit sie nicht fiel. Er sah kaum älter aus als sie, aber seine Bewegungen wirkten nicht im Geringsten jungenhaft oder linkisch, sondern selbstbewusst, fast hätte sie gesagt, arrogant.
    Er zog noch einmal an seiner Zigarre, nahm sie dann aus dem Mund und schnippte sie über Bord; die Spitze glühte rot auf.
    »Werfen Sie sich jedem Mann, dem Sie begegnen, so in die Arme?«, fragte er
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher