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Rasheed, Leila

Rasheed, Leila

Titel: Rasheed, Leila
Autoren: Rueckkehr nach Somerton Court
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hatte ein junger Mann sie so angesehen. Sie presste die Hände um die kalten Eisenstangen und dann an ihre Wangen. Er trat näher an sie heran, und sie nahm den feinen Duft von Gewürzen wahr, der von seiner Jacke ausging, und darunter den Duft seiner Haut. Sie war sich seiner Nähe sehr bewusst.
    »Schauen Sie, Lady Ada.« Er stand hinter ihr und sprach leise, dicht an ihrem Ohr. »Ihr Ursa Major, der Große Bär.«
    »Ich sehe.« Ada betrachtete das vertraute Sternbild.
    Er fuhr fort: »Wenn ich zu den Sternen hochsehe, erinnern sie mich daran, dass sogar Dinge, die unmöglich scheinen, wahr werden können.«
    Ada durchfuhr ein Gedanke. Wenn sie in die unendliche Nacht hinaufblickte, zu den zahllosen Sternen, hatte sie das Gefühl, dass sie am Rand eines Abgrunds stand. Und wenn sie den Mut hätte, einen Schritt nach vorn zu tun, würde sie vielleicht entdecken, dass sie fliegen konnte … Ein Schauer überlief sie, halb vor Kälte, halb vor Aufregung.
    »Bitte.« Er reichte ihr seine Jacke. Ada wollte schon ablehnen, aber der Ausdruck in seinen Augen ließ sie zögern. Während sie versuchte, innerlich wieder ruhig zu werden, legte er ihr die Jacke um die Schultern.
    »Sie sind so schön, die Sterne«, sagte sie, den Blick wieder nach oben gerichtet.
    »Ja«, sagte Ravi. »Ja, das sind sie. Und das ist das Wichtigste. Wer immer wir sind, wie immer wir sie nennen, wir betrachten die Sterne vor allem wegen ihrer Schönheit. Namen, Geschichten – das kommt später.«
    Während er sprach, spürte sie seinen Blick auf ihrer Haut.
    »Seit Anbeginn der Zeiten haben es die Menschen geliebt, Schönes aus der Ferne zu betrachten.«
    Ada drehte beunruhigt den Kopf in seine Richtung.
    »Ich darf nicht …« Sie rang nach Atem. Er stand zu dicht bei ihr, sie sollte etwas tun, sollte etwas sagen, sollte … Stattdessen kamen sich ihre Lippen immer näher, seine Arme schlossen sich um sie, und sie hatte nur noch einen einzigen Gedanken: So ist es also, so fühlt es sich an.

Erster Teil
    Somerton
    1
    Die große Uhr in der Wohnstube der Haushälterin hatte schon hier gestanden, bevor Mrs Cliffe nach Somerton Court gekommen war. Das massive, klobige Eichengehäuse enthielt ein Uhrwerk aus Messing mit einem Zifferblatt, das täglich poliert werden musste. Die Ziffern zeigten die altmodische Schrift, wie sie vor hundert Jahren üblich war, und das langsame, schwerfällige Ticken ließ niemals einen Schlag aus. Die Jahre verstrichen, Dienstboten kamen und gingen, aber die Uhr tickte weiter, stets vernehmbar hinter dem Klappern der Töpfe, dem Klirren des Teegeschirrs und dem auffordernden Schrillen der Dienstbotenklingeln. Diese Standuhr war das Sinnbild von Somerton Court selbst, ewig und unveränderlich. Das Land gehörte schon seit fünfhundert Jahren den Earls von Westlake; seit vierhundert Jahren stand an dieser Stelle ein Haus, obwohl das jetzige Gebäude mit seinem Ballsaal und seiner neoklassizistischen Fassade nach Adam erst aus dem Jahr 1815 stammte. Für Mrs Cliffe und, wie sie spürte, für das gesamte Hauspersonal war die Familie, der sie dienten, eine Quelle großen Stolzes.
    Als sich Mrs Cliffe über die Geschäftsbücher beugte, schien ihr, als nähme das Ticken der Uhr etwas Bedrohliches an. Als stünde es für die Zeit, die auslief.
    Sir William konnte von Investitionen reden, so viel er wollte. Sie wusste, dass es vielmehr an seinen Spielschulden und Spekulationen lag, wenn das Geld abfloss wie Wasser aus einem löchrigen Eimer. Gut, dass Lord Westlake morgen heimkam – gut für Somerton Court jedenfalls. Allerdings konnte seine Rückkehr durchaus auch zu Problemen führen …
    Ihre Gedanken schweiften ab zu Rose; jäh stand sie auf und ging zum Kamin hinüber. Im Spiegel über dem Sims betrachtete sie ihr Gesicht. Wie viele von diesen Falten hatte sie schon vor zehn Jahren gehabt? Sie konnte sich kaum erinnern. Wenigstens waren ihre Augen immer noch groß und klar und so leuchtend blau wie ein Sommerabend. Genau wie Roses Augen.
    Sie hatte Rose immer dazu ermutigt, ihre Haare so zu frisieren, dass ihre herrlich blauen Augen zur Geltung kamen. Jede kluge Mutter würde dasselbe raten, vor allem jetzt, wo Rose sechzehn geworden war. Aber alles andere an Roses Gesicht – ihre vollen Lippen, ihr Lächeln … wer genauer hinsah, konnte hinter das Geheimnis kommen.
    Keiner der Dienstboten unter ihrer Aufsicht hätte Mrs Cliffe so heftige Gefühle zugetraut. Aber heute war sie, die Herrscherin über das Hauswesen,
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