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Höllental: Psychothriller

Höllental: Psychothriller

Titel: Höllental: Psychothriller
Autoren: Andreas Winkelmann
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    Höllentalklamm
    01.12.2009
     
    D er böige Wind trieb die Schneeflocken durch die Wipfel der hohen Tannen in die Schlucht hinein und ließ die Sicht gegen Null sinken. Es war ein Wirbeln und Tanzen, ein Stoßen und Treiben, eine unruhig bewegte Welt voller geisterhafter Schemen und Schatten. Immer wieder von neuem stürzten sie auf die junge Frau zu, ein niemals enden wollender Reigen.
    Die Eiseskälte durchdrang mühelos ihre viel zu dünne violettfarbene Jacke. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Zähne schlugen aufeinander, ihre Lippen hatten längst die Farbe der Jacke angenommen. Ungeschützt und blau verfroren ragten ihre Hände wie Totenklauen aus den Bündchen der Ärmel – an Handschuhe hatte sie bei ihrem überstürzten Aufbruch nicht gedacht. Doch es störte sie nicht, sie war versunken, hatte sich tief in ihr Innerstes zurückgezogen, und alles, was ihrem Körper geschah, nahm sie aus der sicheren Distanz einer Verlorenen wahr.
    Sie trug einen leichten, olivfarbenen Rucksack, der flach an ihrem Rücken anlag. Unter der Kapuze ihrer Jacke war ihr Gesicht nicht zu sehen. Die Schultern nach vorn gezogen, schräg gegen den Wind gelehnt, stieg sie mühsam bergan. Ihre Spur in der dünnen Schneeschicht spiegelte ihren schleppenden Gang. Die einzelnen Abdrücke ihrer Schuhe waren nicht sauber voneinander getrennt, sondern durch Schleifspuren verbunden, die den kahlen Felsboden freilegten. Immer wieder geriet sie ins Stolpern, strauchelte und fing sich dann. Ihre beinahe profillosen Schuhe waren für Wetter und Gelände nicht geeignet, aber daran lag es nicht allein; sie war schon aus dem Tritt gekommen, lange bevor sie sich auf den Weg gemacht hatte.
    Auf dem ebenen Pfad unten im Tal hatte sie noch ein paar Menschen gesehen, doch seit sie bergan stieg, war sie allein – so allein, wie ein Mensch nur sein konnte. Es gab ganz einfach keine Welt mehr, in die sie hätte zurückkehren können, es gab keine Menschen mehr, die sie aufgenommen und ihr geholfen hätten. Derart getrennt von allem, was das Leben ausmachte, war es unmöglich für sie, noch einmal darüber nachzudenken oder es sich gar anders zu überlegen.
    Auf halber Strecke erreichte sie die Weggabelung. Links führte der breite Weg direkt zum Klammeingang, rechts ein schmaler Pfad über den Stangensteig bis hinauf zur Eisernen Brücke. Sie kannte sich hier aus. Dieser Weg hatte sich ihr in unzähligen albtraumgeplagten Nächten ins Gedächtnis eingebrannt.
    Das für Bergwanderer gedachte Gefahrenschild ignorierend, bog sie ohne Z ögern nach rechts auf den schmalen Pfad ab, der sie über Kehren zunächst in einen Laubwald führte . Nasse Stämme kahler Ahornbäume ragten in die graue Luft. Da der Schneefall erst vor einer Stunde eingesetzt hatte, war der Boden unter den Bäumen noch fast frei davon. Sanft senkten sich die kleinen Flocken auf die Laubschicht und erzeugten dabei ein fremdartiges Raunen.
    Sie blieb stehen, schob die Kapuze von den Ohren und sah sich um. Ehrfurcht lag in ihrem Blick. Ihre Augen waren groß, von durchdringend blauer Färbung, aber der Ausdruck einer zerrissenen, gehetzten Seele darin brach ihre Schönheit. Mit zurückgelegtem Kopf stand sie eine Weile lauschend da. Hier und jetzt konnte sie die Geister verstehen, die zu ihr sprachen. Sie breitete die Arme aus, als wolle sie fliegen, dann begann sie zu weinen. Stille Tränen im flüsternden Chor des beginnenden Winters.
    Nach wenigen Minuten setzte sie ihren Fußmarsch fort.
    Der Weg wurde immer steiler, bald begann sie zu schwitzen. Sie ließ die Baumgrenze hinter sich. Die Umgebung änderte sich drastisch, wurde steinig, grau und hart, nur gelegentlich belebt durch niedrig geduckte Latschenkiefern.
    Als sie aus deren schützenden Schatten heraustrat, schlug ihr der kalte Wind wuchtig ins Gesicht. Er fiel aus der hochalpinen Zone über ihr in den schmalen Trichter der Klammschlucht, beschleunigte darin und fegte weiter unten aus der Engstelle. Sie taumelte, geriet gefährlich nahe an die Abbruchkante, fing sich aber wieder und bückte sich tiefer, machte sich klein, um unter dem Wind hindurchzukriechen. Binnen weniger Minuten sog er ihr die mühsam erworbene Wärme aus dem Körper und kühlte sie erneut aus bis auf die Knochen.
    Weiter, immer weiter.
    Einen Fuß vor den anderen.
    Gegen den Wind, der sie scheinbar zurückdrängen wollte, gegen den Schnee, der den Aufstieg immer schwieriger werden ließ. Gegen sich selbst, denn je näher das Ziel rückte, desto
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