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Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Tante Dimity und der Fremde im Schnee

Titel: Tante Dimity und der Fremde im Schnee
Autoren: Nancy Atherton
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Kinderzimmer«, antwortete Willis senior und ging vor mir den Flur hinunter. »Ich habe die Tür geschlossen, weil ich nicht wollte, dass ihr von dem Lärm aufwacht.«
    Als mein Schwiegervater die Tür zum Kinderzimmer öffnete, erklang Kleinkindgeschrei, mit dem man Tote hätte aufwecken können. Will und Rob trugen noch ihre Schlafanzüge. Ihr Haar war zerzaust, ihre Wangen rosa vor Aufregung. Sie standen in ihren Kinderbettchen, hüpften auf und ab und schnatterten wild vor sich hin.
    »Siehst du?«, meinte Willis senior.
    »Mama!«, rief Will. »Alt, alt, alt.«
    »Alt!«, fügte Rob hinzu, für den Fall, dass ich es nicht mitbekommen hatte.
    »Was ist hier los?« Bill stand in der Tür und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er hatte sich eilig ein Harvard-Sweatshirt und eine graue Trainingshose übergeworfen.
    »Ich glaube, sie wollen uns etwas sagen«, murmelte ich und schaute mich im Zimmer um.

    »So spricht eine liebende Mutter«, sagte Bill mit einem nachsichtigen Lächeln. »Du weißt schon, dass sie zu klein sind, um uns etwas …«
    Ich gab ihm einen Stoß mit dem Ellenbogen und deutete auf das Fensterbrett. »Alt!«, rief ich triumphierend.
    Wenn Bill seine Brille aufgehabt hätte, wäre er in der Lage gewesen, das geheimnisvolle Wort so schnell zu enträtseln wie ich. Man musste kein Wunderkind sein, um herausfinden, dass »alt«
    Reginald heißen sollte, der Name des rosafarbenen Flanellhasen, den Tante Dimity mir zu meiner Geburt geschenkt hatte.
    »Was macht Reginald auf der Fensterbank?«, fragte Bill, während er gerade seine Brille auf der Nase zurechtrückte. »Ich habe ihn gestern Abend in Robs Bettchen gelegt.«
    »Rob muss ihn herausgeworfen haben?«, schlug ich vor.
    »Bis hin zum Fenster?« Bill runzelte die Stirn.
    »Ein ganz schöner Wurf für so einen kleinen Kerl.
    Außerdem steht Reginald aufrecht und schaut hinauf. Sehr unwahrscheinlich. Vater, hast du …«
    »Ich habe Reginald nicht berührt«, beteuerte Willis senior und trat ans Fenster. »Er saß so da, als ich heute Morgen aufwachte. Ich dachte, einer von euch hätte ihn dort platziert.«

    Mich überkam ein unbehagliches Gefühl. Die Jungen waren plötzlich still geworden und sahen mich erwartungsvoll an. Ich nickte ihnen zu und trat ans Fenster, neben Willis senior, und blinzelte in das helle Sonnenlicht, das der Schnee reflektierte.
    Kein Windhauch störte die lautlose Welt, die sich vor dem Fenster auftat. Der Himmel wölbte sich bläulich, die karge herbstliche Landschaft war in klassisches Weiß gehüllt. Die Hecken sahen aus, als hätten Cheerleader sie mit ihren Quasten geschmückt, und der Rasen des Vorgartens war von einem makellosen Weiß überzogen, das vom Kiesweg bis hin zu den Lilienbüschen reichte, die unsere Auffahrt umsäumten.
    »Was ist das da?«, sagte Bill hinter mir.
    »Was?«, fragte ich.
    Willis senior beugte sich vor. »Mir scheint, als läge da etwas hinter den Lilienbüschen.«
    Bill richtete sich auf. »Etwas? … eher jemand.«
    Einen Herzschlag lang rührte sich niemand.
    Plötzlich fiel Reginald vom Fenstersitz auf den Boden, und wir schreckten auf. Willis senior blieb bei den Jungs, Bill und ich rannten die Treppe hinunter. In unserer Hast ließen wir die Babypforte offen. An der Haustür schlüpften wir mit nackten Füßen in unsere Stiefel und liefen hinaus, ohne uns etwas überzuziehen.
    Hinter den kahlen Zweigen des Lilienbusches lag ein Mann, auf der Seite, die Hände über der Brust verschränkt, die Beine angezogen, als habe er versucht, so einen letzten Rest von Körperwärme zu erhalten. Schulterlanges, graues Haar fiel über sein Gesicht, Raureif bedeckte seinen struppigen Bart. Er sah aus wie ein Landstreicher, zerlumpte Hosen, Fingerlinge an den Händen, ein abgewetzter Wollmantel, den er mit einem Stück Seil zusammengebunden hatte. Schnee hatte sich über seinen Körper gelegt und ein Muster aus Kreisen und Kurven gezeichnet.
    Bill ließ sich auf die Knie fallen und tastete den Hals des Mannes ab. »Er lebt noch«, murmelte er.
    »Aber nur noch so eben. Pack seine Beine, Lori.«
    Ich starrte auf die schmutzige Hose des Mannes, unterdrückte ein Gefühl des Ekels und half Bill, ihn ins Haus zu tragen.

    Willis senior war ein kleiner, fast schmächtiger Mann, aber wenn er das Kommando übernahm, besaß er die Entschlossenheit eines Fünf-Sterne-Generals. Noch während Bill und ich draußen waren, hatte er zum Telefon gegriffen.
    Es dauerte nicht lange, und ein Rettungshubschrauber
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