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Soucy, Gaetan

Soucy, Gaetan

Titel: Soucy, Gaetan
Autoren: Trilogie der Vergebung 02 - Die Vergebung
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D ie grundlegende Katastrophe dieser Welt ist der unausweichliche Tod derer, die man liebt. Wer das Leben für unwirklich hielte, müsste nur an die Wirk lichkeit der Trauer erinnert werden.
    Louis träumte von sich als kleinem Jungen. Es war Sommer, er stand im Garten auf dem Rasen. Er erwiderte das Winken seines Vaters auf der anderen Straßenseite (der gerade ins Auto stieg). Gefangen in seinem Erwachsenenkörper von vierundvierzig Jahren, stand er abseits an einem Baum und beobachtete das Kind, das er gewesen war. Und noch im Traum fragte er sich, wie so etwas möglich sei. Der Vater wiederholte unablässig seine Handbewegung, als drehten sich diese Sekunden für alle Ewigkeit im Kreis. Von dem kleinen Jungen war nur der Rücken zu sehen. Vielleicht hatte er schon kein Gesicht mehr?
    Ein Gefühl des Verschlungenwerdens riss Louis aus dem Schlaf. Er begriff nicht sogleich, wo er sich befand, und bat den Fahrer, seine Worte zu wiederholen.
    »Die Straße ist versperrt, Monsieur. Wir kommen nicht mehr weiter.«
    »Versperrt?«
    Der Wagen war ins Rutschen geraten und in den Schnee eingesunken, der den Straßengraben auf derlinken Seite überdeckte. Der Fahrer tobte. Louis, noch entrückt von den Bildern des Julimorgens, hatte Schwierigkeiten, die Lage einzuschätzen. War es, weil er von sei nem Vater geträumt hatte? Ihm schien all dies befremd lich, unverständlich. Sogar das seltsam affektierte Mur ren des Fahrers. Er wirkte wie ein kleiner Junge, der einen Erwachsenen spielt, wie er sich aufregt.
    »Und was machen wir jetzt?«
    »Was sollen wir schon machen? Wir laufen zurück zum Bahnhof.«
    Louis drückte sich tief in den Sitz, mit einem Seufzer des Überdrusses (den er sogleich bereute: Würde der Fahrer etwa glauben, er tadelte ihn wegen irgendetwas?…). In den letzten achtzehn Stunden hatte er nichts anderes getan, als zu reisen, sein Gepäck zu tragen, von einem Wagen in den nächsten zu steigen, doch war er noch immer nicht am Ziel.
    »Ist es denn ganz unmöglich? Können wir nicht versuchen, die Reifen freizubekommen?«
    Der Fahrer schnaubte in bitterer Ironie. Er erwiderte, dass man dafür mindestens drei Pferde bräuchte.
    »Das heißt also, wir werden zu Fuß zurückkehren müs sen«, sagte Louis, als dächte er laut nach.
    »Ich fürchte schon.«
    Trotz seines Fluchens schien der Fahrer sich nicht über die Maßen zu sorgen. Er war mit blendender Laune auf die Welt gekommen. Zudem löste die zerstreute, bisweilen verängstigte Erscheinung des Reisenden bei ihm ein amüsiertes Erstaunen aus. Doch nicht aus Boshaftigkeit. Er empfand für Louis dieselbe Sympathie, die Kinder für einen Clown empfinden.
    Die linke Seite des Wagens war so tief im Schnee versunken, dass die Tür nicht mehr zu öffnen war. Die beiden Männer stiegen also, nicht ganz ohne Mühe, auf der rechten Seite aus. Von der Talsohle an war die Straße unpassierbar. Der Schnee hatte sich darübergebreitet und einen riesigen Pulversee gebildet. Louis band sich den Schal fester um den Hals. Sein Gepäck bestand lediglich aus einem kleinen Koffer, der in Größe und Form an eine Arzttasche erinnerte. Da er möglichst leicht reisen wollte, hatte er im letzten Augenblick auf seinen alten Pelzmantel verzichtet, doch stellte er fest, dass dies vielleicht ein Fehler gewesen war. So trug er nur einen mit Schafsfell gefütterten Wettermantel.
    Der Fahrer inspizierte den Wagen (einen Ford aus der unmittelbaren Nachkriegszeit) und Louis betrachtete die Landschaft, die vor ihm lag. Bald würde es dunkeln. Eine Art Leuchten stieg aus dem Schnee. Der Wind hatte in den weißen Dünen präzise, feine Rillen hinterlassen, die wie kunstvoll hineingeschnitzt wirkten. Man konnte sie mit dem Blick über die gesamte Hügellandschaft verfolgen, zart wie die Zeichnung menschlicher Lippen. Da und dort wirbelte ein Lufthauch dicht über dem Boden diamantene Staubwolken auf, die sodann wie Rauch verschwanden. Ein sich dem Anschein nach endlos ausdehnender Wald breitete seine Flügel über beide Seiten des Tals. Die beinahe schmerzhafte Weite der Landschaft dehnte sich in alle Richtungen, blies wie einen Luftballon den Raum auf.
    »Danke, es wird schon gehen«, erwiderte er dem Fahrer, der ihm ein Paar Schneeschuhe angeboten hatte. (Tatsächlich hatte er noch nie in seinem Leben welche getragen und fürchtete seine Ungeschicklichkeit.)
    Er griff sich sein Gepäck. Er zog vor, es selbst zu tragen, aus ihm eigener Bescheidenheit, und auch, da er es nicht gewohnt war,
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