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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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Verlust, Träume und Hoffnungen, über Naturwissenschaft, den Tod, alles was danach kommen könnte und das Leben an sich. Seine Stimme flößte mir keine düsteren Erinnerungen, sondern Trost ein. Ich sah ihn vor mir, wie er in seinem alten, staubigen Haus saß, Kakao mit Sahne trank und sich mit Bollywood-Filmen tröstete.
    Ruth wiederum hatte jede Erinnerung verloren. Nein, sie hatte sich selbst verloren. Tagein, tagaus saß sie auf dem Bett ihres Klinikzimmers, starrte mit ewig gleichem Gesichtsausdruck ins Leere und zeigte die Bedeutung hinter Louans Worten auf.
    Jemandem die Seele zu rauben, ist schlimmer als der Tod.
    Ich wusste nicht, ob ich Aaron wiedersehen wollte. Vielleicht spendete mir nur seine Stimme Trost. Vielleicht hatte ich Angst davor, sein Anblick könnte das zerstören, was stundenlange Telefonate zwischen uns hatten wachsen lassen. Oft fragte mich Dad, ob er ihn zu uns einladen solle, und jedes Mal antwortete ich dasselbe: „Keine Ahnung.“
    „Schau mal da vorne.“ MacMuffin deutete auf die Seehundbänke, die sich aus dem Dunst der Ferne schälten. „Ist da nicht ein Weißer bei? Oh, dieser dumme Junge. Was macht er denn da? Zeigt sich der ganzen Welt.“
    Ich gefror. Ja, er hatte recht. Zwischen dunklen, runden Leibern glänzte ein schlanker Körper im fahlen Elfenbeinlicht. Es war nicht Raer. Ich spürte es so deutlich, als hätte jemand ein Leuchtfeuer in meinem Herzen angezündet.
    „Fahr“, rief ich. „Fahr schneller.“
    „Sobald wir näher kommen, hauen sie ab.“
    „Fahr!“ Tränen brannten in meinen Augen. Mein Herz nahm stolpernd seine Funktion wieder auf. Er durfte nicht verschwinden. Er durfte einfach nicht.
    MacMuffin schüttelte den Kopf, der Kutter wurde schneller. Erschrockenes Blöken durchdrang die Stille. Dutzende dunkle Körper stürmten in das Wasser und tauchten ab. Einer nach dem anderen. Mit ihnen auch der silberne Seehund. Binnen weniger Augenblicke lag eine leere Sandbank vor uns, die meine Hoffnungen verhöhnte. Ein schier unerträglicher Schmerz ließ mich gegen das Steuerrad sinken.
    „Hast du gesehen, wie viel Angst sie hatten?“ MacMuffin zog mich in seinen Arm, als befürchte er, ich könnte Louan folgen.
    Doch das wäre unmöglich gewesen.
    Aus meinem Körper schien plötzlich alle Kraft herausgesaugt. Ohne MacMuffins Stütze wäre ich in mich zusammen gesunken.
    „Die haben wochenlang nach ihnen gejagt. Kein Tag verging, an dem sie nicht gestört wurden. Ein paar Seehunde haben diese Idioten sogar erschossen, um ein Exempel zu statuieren. Das passiert, wenn Mensch und Tier sich in die Quere kommen. Lass es gut sein, Mari. Was meinst du, was passiert, wenn plötzlich wieder ein silberner Seehund auftaucht? Sein Fell wird schneller an der Kneipenwand landen, als du wie hab ich dich vermisst sagen kannst. Oder die stecken ihn wieder in einen Käfig und bringen ihn zu diesen unsäglichen Forschern zurück. Louan hat vielleicht alle Erinnerungen verloren, aber er spürt, dass du ihn nicht loslässt.“
    Ich nickte. Der Kloß in meiner Kehle fühlte sich an, als würde er nie wieder weichen.
    „Lass ihn gehen, Mari.“
    „Kann ich morgen wieder mitkommen?“
    „Morgen ist Montag. Da hast du Schule.“
    „Bitte.“
    „Auf gar keinen Fall. Du wirst schön das tun, was du tun musst.“
    Mein Magen krempelte sich um. Die Fahrten mit MacMuffin waren alles, was mir geblieben war.
    Neben einer kleinen, silbernen Muschel, die ich seit meiner Rückkehr trug. „Genau das meine ich. Ich wäre lieber ein Tier.“
    „Wirklich? Willst du gejagt werden, egal wo du auftauchst? Geh morgen zur Schule. Am Freitag kommst du zu mir und wir fahren wieder raus. In Ordnung?“
    Ich nickte mit hängendem Kopf. Was war die Schule gegen das Meer? Was waren schnöde Menschendinge gegen die Freiheit, die man fühlte, wenn man wie ein Pfeil durch das Wasser schoss, als Teil einer endlosen, unbeschreiblich schönen Welt?
    „In Ordnung.“ Das Bewusstsein, dass MacMuffin recht hatte, schnürte mir die Kehle zu. „Freitag klingt gut.“

    Es wurde Zeit. Ich musste mich endgültig entscheiden.
    Dad und Olivia schnitten im Rosenanbau welke Blüten ab. Ich winkte ihnen zu, warf meine Schultasche in die nächstbeste Ecke und rannte los, ehe man mir Fragen stellen konnte. Der Herbst kam mit schnellen Schritten näher, die Tage wurden kürzer. Fast meinte ich, schon den Geruch des Winters zu spüren.
    Der Tag, an dem der erste Schnee fiel, würde furchtbar werden.
    Ich stürmte zum
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