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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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sich unter Wasser, denn die Strähnen ihres langen Haares umgaben sie wie wogender Tang.
    Die Seele des Ozeans stand in geschwungenen, goldenen Buchstaben unter der Nixe. Kjell fühlte einen unbestimmbaren Stich im Herzen. Vielleicht war es der hingebungsvolle Ausdruck im Gesicht der Frau. Vielleicht das Wort Ozean, das er wie keine andere Abfolge von Buchstaben mit Wehmut verband. Für ihn klang das Wort wie drei streichelnde Wellen, weich und sanft, die über die Zunge rollten und genau das vertonten, was das Meer in ihm auslöste: Sehnsucht.
    Kjell drehte das Buch um und las den Klappentext:

    Geschichten aus den Tiefen der nordischen See
    erzählen von einer todkranken Schriftstellerin,
    die sich an die einsame Küste Nordirlands zurückgezogen hat.
    Von einem geheimnisvollen Fremden mit dem Blut des Meeres in den Adern,
    der dazu bestimmt ist, für die Liebe das größte aller Opfer zu bringen.
    Sie erzählen die Geschichte eines weißen Narwals,
    und die einer Liebe, so tief wie der Ozean.“
    „Es ist von dir?“, fragte er leise.
    „Woher wusstest du?“ Fae lächelte verschmitzt. „Ich habe ein Pseudonym benutzt.“
    „Keine Ahnung. Ist einfach dein Stil. Warum zeigst du es mir erst jetzt?“
    Sie zuckte nur mit den Schultern, was er als Antwort akzeptieren musste.
    In den letzten dreißig Jahren hatte seine Mutter viele Bücher veröffentlich. Verträumte, märchenhafte Geschichten, die ihn aus der Wirklichkeit herausgezogen und in eine andere Welt entführt hatten. Einer Welt, in der sich Magie mit grauer Realität vermischte, bis alles in wunderbaren Farben strahlte und man glaubte, überall lägen verborgene, fantastische Rätsel.
    „Ich möchte, dass du es liest“, sagte sie leise. „Und zwar bevor du gehst.“
    „Bitte?“
    „Du hast mich schon verstanden.“
    „Aber das schaffe ich nicht. Morgen Abend muss ich zum Flughafen.“
    Sie zwinkerte ihm zu. Ein vergnügtes Funkeln huschte durch das klare Grün ihrer Augen. „Dann solltest du schnell damit anfangen.“
    „Hättest du es mir nicht eher geben können?“, murrte Kjell. „Ich bin kein Schnellleser wie du. Dafür werde ich ewig brauchen.“
    „Ich hätte es dir nicht eher geben können.“ Der Blick seiner Mutter verlor sich in der Ferne. Er liebte die Art, wie der Wind durch ihre weichen, silbernen Haarsträhnen strich. Doch etwas in ihren Augen bereitete ihm Unbehagen. Sie sahen traurig aus. Und zugleich lag ein Sehnen darin, dessen Stärke ihm nicht gefiel.
    „Weil ich bis heute nicht wusste, dass es der richtige Zeitpunkt ist“, fügte sie hinzu. „Um ehrlich zu sein … ich dachte schon, er würde nie kommen.“
    „Was meinst du? Der richtige Zeitpunkt wofür?“
    Faes Lippen zuckten, als wolle sie lächeln. Doch der Ernst trug seinen Sieg davon. Sie trauerte um verlorene Zeiten. Um ihre Jugend, um all die fernen Länder, die sie nie wiedersehen würde.
    Ein schmerzender Kloß brannte in seiner Kehle. Manchmal war seine empathische Gabe ein Fluch. Was brachte es, die Gefühle anderer Menschen zu spüren? Es war eine Last auf seinen Schultern, die er nie ablegen konnte.
    „Er ruft mich“, flüsterte Fae. „Nach so langer Zeit hat er mich endlich gefunden. Heute ist meine Nacht. Nein, es ist unsere Nacht.“
    „Mum?“
    „Ja?“, säuselte sie.
    „Geht es dir gut?“
    „Besser als je zuvor. Geh nur. Geh rein und lese.“
    „Von wem hast du gerade geredet? Wer ruft dich?“
    „Lies das Buch. Wir haben nicht ewig Zeit.“
    Kjell erhob sich unwillig, folgte noch einmal dem Blick seiner Mutter und sah auf das nächtliche Meer hinaus. Mondschein glänzte auf dem tanzenden Muster der Wellen.
    Bald würde er wieder auf einem Schiff sein, seiner Aufgabe folgen und für das kämpfen, was er über alles liebte.
    Seltsam, dass er dem Ozean nirgendwo so nahe war wie hier. Nicht einmal in der Weite des Pazifiks. Nicht in den kalten Gewässern der Antarktis und nicht über dem schillernden Labyrinth des Great Barrier Reefs.
    „Was soll’s“, murmelte er. „Ich kann sowieso nicht schlafen. Gute Nacht, Mum.“
    „Gute Nacht, Kjell.“
    Er schlurfte zurück in das Dachzimmer, schaltete die Nachttischlampe ein und kuschelte sich ins Bett, ohne seinen Morgenmantel auszuziehen. Er liebte dieses Ding, seit Fae es ihm zu seinem zwanzigsten Geburtstag geschenkt hatte. Es war blau und schwarz gestreift, wies zahlreiche Löcher auf und würde erst zu Grabe getragen werden, wenn es ihm vom Körper bröckelte.
    „Es passt so gut zu
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