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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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Schuppen, gebettet auf eine zerschlissene Decke. Immer, wenn ich das Tier berührte, erwartete ich, durch es hindurchzufassen wie durch eine Illusion. Aber es war echt und bestand aus Fleisch und Blut. Aus Fleisch, das starb, und Blut, das meine Haut verklebte.
    Mein Vater hatte für den Seehund alles getan, was in seiner Macht lag. Die Kugel in der Flanke war entfernt, das Loch genäht und verbunden worden. Trotzdem war es nicht genug gewesen. Dad hatte inzwischen die Flucht ergriffen und gönnte sich den Schlaf der Gerechten. Ich wiederum saß hier, in meinem grünen Wollpullover und meiner blutbefleckten Lieblingsjeans, fror mir die Seele aus dem Leib und bewachte einen sterbenden Seehund. Es war mir unmöglich, ihn allein zu lassen. Ich konnte nicht wie Dad den Lauf der Natur mit einem Schulterzucken hinnehmen und Dinge wie „so ist das eben“ murmeln. Irgendetwas flüsterte mir zu, dass dieses Wesen mich brauchte. Gut möglich, dass ich nur Hirngespinsten nachhing, aber ich wollte in seinen letzten Stunden bei ihm sein.
    Während ich ihn streichelte, wurde der Seehund immer kälter. Er bewegte sich kaum mehr. Das Leben floss aus ihm heraus und versickerte in der Decke zu meinen Füßen. Seine Augen schlossen sich, ein Zittern durchlief den quecksilbernen Körper.
    Der Frust packte meinen Magen und quetschte ihn zusammen. Zutiefst erschöpft rutschte ich von dem sterbenden Tier weg, lehnte mich gegen die Wand und starrte ins Leere.
    Warum berührte mich das so sehr? Ich hatte viele Tiere sterben sehen, das brachte das Leben in einem Fischerdorf mit sich. Erschossene, in Netzen erstickte, gestrandete oder von Schiffsschrauben zerfetzte Tiere. Aber diesmal war es anders. Ich erkannte mich selbst nicht wieder, wie ich hier mit brennenden Augen saß, ertrunken in Sentimentalität. Es wäre besser gewesen, Dad zu rufen und den Seehund hinaus zur Brandung zu tragen. So hätte er noch einmal die Freiheit atmen können. Doch weil ich mich nicht dazu hatte überwinden können, hauchte das Tier jetzt in diesem heruntergekommenen Schuppen sein Leben aus.
    Auf einer nach nassem Hund stinkenden Decke und mit rostigem Werkzeugen als letztem Anblick.
    Irgendwann musste ich wohl eingenickt sein. Zuerst war ich verwirrt, wusste nicht, was geschehen war. Doch dann fiel mein Blick auf die Decke, das Blut und …
    Ich hörte meinen erstickten Schrei, als hätte ihn ein anderer ausgestoßen. Was ich sah, war unmöglich. Das Tier war verschwunden. Nein, nicht ganz. Sein Fell war noch da. Es wurde gehalten von blutverschmierten, menschlichen Armen. Ein Junge – oder vielmehr ein junger Mann – saß vor mir, starrte mich an und zitterte wie Espenlaub. Seine Augen waren so schwarz wie die des Seehundes. Helle Streifen zogen sich durch sein lockiges Haar, dessen längste Strähnen in seinem Nacken klebten. Quecksilbergrau auf Schwarz.
    Mit einem Ächzen rutschte er von mir weg, stieß mit dem Rücken gegen die verrostete Schubkarre und ließ seinen von Panik erfüllten Blick hin und her huschen. Mein Verstand gefror. Ich sah blutdurchtränkte Binden, die zerfetzt auf dem Boden lagen. Auf dem Oberschenkel des Jungen klaffte eine Wunde, deren Nähte aufgerissen waren. Er umklammerte das Fell mit aller Kraft und drückte es sich gegen die Brust, als sei seine größte Angst, ich könnte es ihm wegnehmen.
    Selkie , raunte etwas in mir. Ein Seehundmensch.
    Blödsinn! Es gab keine Selkies. Ich knallte durch, das war es. Es musste eine andere Erklärung geben. Eine logische Erklärung dafür, dass dieser Junge splitterfasernackt vor mir kauerte, mit schwarzen Seehundaugen und derselben Wunde am Körper, wie sie auch das Tier besessen hatte.
    Dummerweise fiel mir keine ein.
    „Ich tu dir nichts.“ Wie losgelöst von meiner Konfusion streckte ich die Arme aus. „Keine Angst. Es ist alles in Ordnung.“
    Er legte den Kopf schief und sah mich misstrauisch an. In meinem Magen flatterte es. Eine Weile konnte ich nichts weiter tun, als diesen unergründlichen Blick zu erwidern. Der Junge konnte nicht älter als neunzehn sein, und trotz all dem Blut und der Angst, die sein Gesicht verzerrte, war er schön. Auf eine wilde und zugleich sanfte Art, die mich tief im Herzen berührte.
    Für Momente vergaß ich selbst meine Erschütterung. Was zum Teufel war er? Was war ihm passiert?
    „Ich tue dir nichts.“
    Wieder rückte ich ein Stück näher. Und plötzlich berührten meine Fingerspitzen seine Schulter. Er hatte die Beine eng an den Körper
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