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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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da? Selkies sind insbesondere auf den Orkneys und den Shetland Inseln anzutreffen.“ Ich konnte Mums spöttisches Schnaufen hören, obwohl sie sich vermutlich gerade am anderen Ende der Welt die Fußnägel fliederfarben lackierte. „Man nennt sie auch Seehundmenschen. Tagsüber schwimmen sie in Tiergestalt durch das Meer, nachts legen sie ihre Haut ab und werden zu Menschen. Während manche Legenden behaupten, Selkies brächten armen Fischern mit ihrem Gesang reiche Beute und beschützten aufrichtige Menschen vor den Gefahren der See, wissen andere Geschichten zu berichten, es seien heimtückische, boshafte Geschöpfe, die nichts als Tod und Verderben im Sinn hätten. Weibliche Selkies sind von erlesener Schönheit, wobei männliche Selkies eher untersetzt und unansehnlich daherkommen.“
    Ich wandte mich um. Hässlich war unser Fund nun wirklich nicht. Aber das bewies oder widerlegte gar nichts. Mit hochrotem Kopf widmete ich mich wieder dem Bildschirm, während Dad hinter mir zu schnarchen begann.
    „Die Legende weist Ähnlichkeiten zu den Erzählungen über die japanischen Himmelsfeen auf, welche vom Himmel herabsteigen und ihr Kleid ablegen, um als Mensch zu leben. Ohne dieses Kleid ist es ihnen unmöglich, in den Himmel zurückzukehren. Stirbt ein Selkie in Menschengestalt, kann man ihn wieder zum Leben erwecken, indem man seinen Körper dem Meer übergibt. Er verwandelt sich in einen Seehund, verliert jedoch die Fähigkeit, wieder zum Menschen zu werden. Weint eine Menschenfrau sieben Tränen ins Meer, entsteigt dem Wasser ein Selkiemann und gehört für eine Nacht lang ihr.“
    Wie aufregend! Erneut warf ich einen Blick auf den Jungen. Seine Lippen bewegten sich, als würden sie Worte formen, doch zu hören war nichts. Mit klopfendem Herzen wandte ich mich um und las weiter.
    „Der Selkiemann wird sie beglücken, wie es kein Mensch vermag, doch nimmt er am nächsten Morgen die Erinnerung an ihn mit ins Meer zurück.“
    Nachdenklich zwirbelte ich eine Haarsträhne. Entsprächen diese Geschichten der Wirklichkeit, säßen wohl viele Frauen Zwiebeln schneidend an irgendwelchen Stränden, in der Hoffnung, ein schöner Liebhaber möge den Wellen entsteigen. Stand das nicht im Gegensatz zu der vorherigen Behauptung, männliche Selkies seien hässliche Kreaturen? Was davon entsprach denn nun der Wahrheit? Und warum redete ich angesichts dieser Märchen überhaupt von Wahrheit?
    Mir schwirrte der Kopf. Ich brauchte eine Auszeit. Über die restlichen zweihundertsiebenunddreißig Ergebnisse würde ich mich später hermachen.
    Wenn der Arzt uns verließ und der Junge weder gestorben noch in ein Labor verschleppt worden war.
    Erschöpft plumpste ich in die grün-braun karierten Polster meines Lieblingssessels. Der Atem unseres Patienten ging unruhig. Seine Halsschlagader schwoll an, seine Hände, die jetzt auf der Decke lagen, zuckten wie unter Stromschlägen. Während Dad ganze Wälder absägte, suchte ich in meinem Kopf nach den passenden Worten für den Arzt, der jeden Moment hier auftauchen konnte: „Ich weiß, es sieht übel aus, aber wir können ihn nicht in ein Krankenhaus bringen. Er ist nämlich ein halber Seehund. Wie wäre es, wenn Sie sich einfach hier um ihn kümmern und anschließend vergessen, dass Sie hier waren? Wäre das okay?“
    Ja, ganz fantastisch. Zog ich ernsthaft in Erwägung, er könnte kein Mensch sein? Ich hatte den Seehund gesehen. Einen sehr ungewöhnlichen Seehund. Und ich hatte den nackten Jungen mit dem Fell vor mir kauern sehen. Seine Wunde war genau an der Stelle, an der auch das Tier verletzt gewesen war. Wie sollte man so etwas rational erklären?
    Herrgott, ich brauchte Schlaf. Vielleicht schlief ich auch längst und träumte mir diese Wirklichkeit zusammen. Als hätte mein Körper nur darauf gewartet, dass ich die Augen schloss, driftete ich augenblicklich in zähe Schwärze ab. Für einige Momente vergaß ich alles um mich herum, bis ein Poltern mich hochfahren ließ.
    „Was zum …?“
    Alles, was ich sah, war ein heller Schatten, der sich das Fell vom Tisch schnappte und hinüber zur Haustür huschte. Und zwar mit einer Schnelligkeit, die das vorherige Delirium Lügen strafte. Der Junge griff nach der Klinke, drückte sie herunter und fand die Tür verschlossen vor. Ich hörte ein tiefes Knurren. Dann einen kehligen Laut, der von blanker Panik und schäumender Wut zeugte. Dad sprang wie von der Tarantel gestochen hoch. Der Fremde warf sich gegen die Tür, rüttelte an der
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