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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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„Weißt du, Mari, du bist wie diese Samen.“ Sie nahm eine der getrockneten Kapseln aus dem Bastkorb, die wir als Zierrat verkauften. Im Hintergrund trat mein Vater fluchend gegen den Stamm eines Orangenbaumes und hüpfte anschließend, einen Daumen in den Mund gesteckt, ein paar Mal auf der Stelle.
    „Du keimst und wächst im Dunkeln. Kommt die richtige Zeit, sprengst du deine schützende Hülle und erblühst. Pass nur auf. Bald kommt der Richtige. Dann wirst du begreifen, was es heißt, zu leben.“
    „Was wäre die Welt nur ohne gut gemeinte Tipps und wohlwollende Ratschläge?“ Ich rollte mit den Augen, marschierte zum Erste-Hilfe-Kasten und verarztete meinen Vater. Sein Daumen sah aus wie ein Patchwork-Gebilde, erschaffen aus den zahllosen Verletzungen seiner achtunddreißigjährigen Gärtnerarbeit. Der neue Schnitt war lang, aber nicht allzu tief. Tapfer unterdrückte er sowohl die Flüche als auch das Jammern, während ich behutsam ein Pflaster anlegte.
    „Was wäre ich nur ohne dich?“ Liebevoll tätschelte er mir nach Vollendung meiner Arbeit die Schulter. „Hört zu, bringt noch schnell die Kokoserde rein, dann machen wir alles dicht. Heute kommt doch sowieso keiner mehr her.“
    Olivia und ich nickten synchron, während Dad mit wehender Schürze in den überdachten Freibereich hinauslief. Draußen wurde der Schneefall heftiger. Ich konnte kaum mehr die Schiffe im Hafen sehen. Verwehungen türmten sich höher und höher, obwohl es erst früher Nachmittag war. In Momenten wie diesen, wurde mir deutlicher als sonst bewusst, dass wir auf einer kleinen Insel im hohen Norden lebten, und damit für die meisten Menschen am Ende der Welt.
    Während die Fenster der Gärtnerei sich mit Eisblumen schmückten und der Wind klagte, ertönte aus den Lautsprechern The Flower Duet aus der Oper Lakmé . Eines meiner Lieblingsstücke. Die tragische Liebe zwischen der Tochter eines indischen Brahmanenpriesters und einem englischen Offizier, verurteilt zum Scheitern und doch unzerstörbar in ihrer Schönheit. Mir wurde flau im Magen.
    „Erde an Mari?“ Olivia stupste mich an. „Hey, alles in Ordnung?“
    „Ja.“ Ich rieb mir mit den Fingern die Schläfen. Im Geiste sah ich wieder die Augen des Jungen vor mir. Schwarz und glänzend wie Onyxe. Seehunde blickten immer traurig, als wüssten sie um das bittersüße Drama des Daseins, und genau diese wissende Traurigkeit hatte ich auch in ihm wiedererkannt.
    „Alles bestens“, murmelte ich.
    „Bist du dir sicher?“
    „Ja, und jetzt komm. Wir müssen uns mit der Erde beeilen, sonst kommen wir gar nicht mehr nach Hause.“
    „Ihr seid es, die bei diesem Sauwetter noch fahren müsst. Bleibt doch hier. Ryan und ich haben mehr als genug Platz.“
    „Das ist nett. Aber lieber nicht.“
    „Ich weiß. Ihr seid Einsiedlerkrebse. Bleibt dabei, solange es euch glücklich macht. Was habt ihr übrigens an Weihnachten angestellt?“
    Ich wollte gerade antworten, als sie mir einen Finger auf die Lippen legte. „Lass mich raten. Ihr habt gelesen, Musik gehört und Pflanzen betüddelt. Allein.“
    „Ja.“
    „Wie geht’s den Vögeln?“
    „Bestens.“
    „Und wie geht es Andreas? Hat er immer noch so viel Pech?“
    Ich seufzte. Andreas war ein alter Fischer, der kaum mehr etwas fing und in Armut versank, ohne jemals ein Wort der Klage zu verlieren. Neben Olivia und meinem Dad war er der einzige Mensch, mit dem ich gerne und oft redete. Wir waren so gesehen Nachbarn, nur fünf Kilometer Luftlinie voneinander entfernt. Ich war seit zwei Wochen nicht mehr bei ihm gewesen. Eigentlich unverzeihlich.
    „Du kennst ihn doch“, sagte ich. „Es geht ihm miserabel, aber wenn du ihn fragst, grinst er nur und schenkt dir Whisky ein.“
    „Ich hoffe, das gilt nur für Thomas. Wart ihr mal wieder mit ihm draußen?“
    „Nein. Aber vielleicht morgen. Wenn es so weiterschneit, kommen wir sowieso nicht in die Stadt.“
    Der Gedanke besaß eine wilde Verführungskraft. Ich würde zusammen mit Andreas und Dad hinaus auf das Meer fahren. Hinaus zu den Seehunden und zu meinem Selkie. Meine Güte, was war ich nur für eine Träumerin! Aber selbst, wenn Fabelwesen nicht existierten, war es wundervoll, mit dem klapprigen Kutter über die Wellen zu reiten. Hin zum Horizont und weg von allen Sorgen. Auf dem Meer war alles fern. Unsere Geldsorgen, Dads Liebeskummer und meine Angst vor der Zukunft.
    „Ich würde euch gerne mal wieder besuchen.“ Olivia trat von einem Bein auf das andere.
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