Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen

Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen

Titel: Das verbotene Land 1 - Die Herrscherin der Drachen
Autoren: Margaret Weis
Vom Netzwerk:
1
    Jeden Morgen, ehe der Sonnenaufgang die weißen Marmorsäulen des Klosters in goldenes Licht tauchte, begab sich die Hohepriesterin zum Tempel des Wachsamen Auges, um dort den Ritus des Schauens zu vollziehen. Ihr allein oblag die Durchführung dieses uralten Rituals. Es war ihre Pflicht, aber auch ihr Privileg.
    Während die anderen Priesterinnen in den Zellen ihre Morgengebete murmelten, wanderte die Hohepriesterin Melisande über die kühlen, düsteren Pfade vom eigentlichen Kloster zu dem kleinen Heiligtum, in dem sie den Ritus vollführen sollte. Der kreisrunde Tempel des Wachsamen Auges war aus schwarzem Marmor erbaut und lag auf einem Felsvorsprung oberhalb des Tales und der Stadt. Sein Kuppeldach wurde von schwarzen Marmorsäulen getragen. Der Tempel hatte keine Mauern. Wenn Melisande innerhalb des Säulenrunds stand, konnte sie die Fichten, Zedern und Tannen sehen, die einen natürlichen Schutzwall um das Kloster bildeten.
    Eine Steinmauer, die von Menschenhand erbaut war, umschloss das gesamte ausgedehnte Klostergelände mit allen Nebengebäuden. Der Tempel des Wachsamen Auges lag jenseits dieser Grenze. Jeden Morgen durchschritt Melisande eine Weidenpforte, um ihre Zeremonie durchführen zu können. Die Kriegerinnen auf der Mauer gaben gut auf ihre Priesterin Acht, um dieser im Zweifelsfall augenblicklich beistehen zu können.
    Das Heiligtum barg eine weiße Marmorschale von ungeheurem Ausmaß, in die ein Lapislazuli eingelassen war. Er symbolisierte die Iris eines Auges. Die Pupille des Auges wiederum, die genau im Zentrum der Schale lag, war nachtschwarz. Jeden Mittag kamen die jüngsten Akolythinnen, die körperlich und geistig noch jungfräulich waren, um das Marmorauge zu waschen und zu polieren. Jeden Morgen vor Sonnenaufgang nahte die Hohepriesterin, um zu sehen, was das Auge wahrnahm.
    Obwohl der Himmel im Osten bereits vom Tiefrosa der Morgendämmerung verfärbt war, hatten die Farben noch nicht die Schatten der Nacht vertrieben. Schwer und dicht ballte sich die Finsternis unter den Zweigen der Fichten. Dennoch hatte Melisande keine Lampe bei sich. Sie kannte den Weg auch im Dunkeln. Immerhin beschritt sie diesen Pfad jeden Morgen, seit zehn Jahren, seit sie achtzehn geworden war. Sie kannte jeden Sprung im Pflaster, jede Senke, jede Steigung am Hang, jede Biegung auf dem Grat, über den der Pfad sich schlängelte. Als sie aus dem Schatten des Waldes ins blasser werdende Sternenlicht trat, hatte sie den Tempel beinahe erreicht. Noch vier Schritte, dann um ein paar Pinien, und schon sah sie die Silhouette des Bauwerks vor dem Himmel, der allmählich heller wurde.
    Melisande trug ihr zeremonielles Gewand, das sie jeden Morgen für das Ritual anlegte. Sobald sie wieder im Kloster war, wurde es glatt gestrichen, ordentlich zusammengelegt und am Fußende ihres Bettes in der kleinen Zelle verstaut, wo es auf den kommenden Morgen wartete. Das handgewebte Angorakleid war zuerst schwarz, dann lila gefärbt worden. Wenn Melisande es trug, verschmolz sie mit der Nacht – ein weiterer Grund, weshalb sie es vorzog, ohne Licht unterwegs zu sein. Sobald sie das Prunkgewand ablegte, um es gegen ihr Alltagskleid auszutauschen, streifte sie auch die heiligen Mysterien der Nacht ab. Danach widmete sie sich nur noch den weltlichen Pflichten des Tages.
    Als Melisande am Tempel eintraf, schlüpfte sie aus ihren Ledersandalen, ehe sie ihn betrat. Der Marmor war kalt, doch sie hatte sich längst daran gewöhnt, ihn barfüßig zu betreten. Inzwischen genoss sie das leichte Frösteln, das ihren Körper durchzog, wenn ihre Fußsohlen den kühlen Stein berührten. Während sie die drei Stufen zu dem Podest mit dem Auge emporstieg, flüsterte sie Gebete. Dann kniete Melisande vor der Schale nieder, sprach das vorgeschriebene Gebet und nahm den Flakon mit dem Weihwasser zur Hand, der neben dem Auge auf dem Boden stand.
    Sie goss das Wasser in die Schale. Die blaue Iris schimmerte im zunehmenden Morgenlicht. Ungeweinte Tränen blinkten im Auge.
    Melisande wartete, bis die Wasseroberfläche spiegelglatt war, ehe sie die rituellen Worte sprach, die sie die Drachenmeisterin am Tag ihrer Ernennung zur Hohepriesterin gelehrt hatte.
    »Weite dich, du Hüter unseres Reiches, und lass mein Auge schauen, was du schaust.«
    Zehn Jahre lang hatte Melisande jeden Morgen in die Iris aus Lapislazuli geblickt, und jeden Morgen hatte sie gesehen, was das Auge sah: das Tal, in dem ihr Reich eingebettet war, die Berge, die es schützend
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher