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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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Klinke, fuhr herum und stürzte zum Fenster hinüber. Er hatte es bereits geöffnet, als Dad ihn von hinten packte und zurückzog. Es war, als versuchte er, eine Wildkatze im Zaum zu halten. Das Fell fiel zu Boden. Fauchend zappelte der Junge im Griff meines Vaters. Er zog, zerrte und riss derart an seinen Armen, dass mir angst und bange wurde. Die Laute, die ihm während des Kampfes entflohen, waren nicht menschlich. In ihm grollte der Zorn eines wilden Tieres.
    Obwohl Dad größer und um vieles fülliger als sein Gegner war, vermochte er ihn kaum zu bändigen. Irgendwann, als sein Griff unter dem Ansturm der Gegenwehr erschlaffte, sank zu meiner Erleichterung auch der Junge in sich zusammen.
    Beim schuppigen Kelpie, mein Vater lag allen Ernstes auf dem Boden, mit einem nackten Kerl in seinen Armen, während ich zur Salzsäule erstarrt dastand.
    Fehlte nur noch, dass genau jetzt der Arzt auftauchte.
    Kalter Sturmwind pfiff mir ins Gesicht und fegte die Notizen auf dem Schreibtisch durcheinander. Ich musste träumen. So idiotisch konnte die Realität nicht sein.
    „Ich tue dir nichts“, japste Dad. „Du kannst aber nicht einfach verschwinden. Du bist verletzt. Ich kann dich so nicht gehen lassen.“
    Der Junge bleckte die Zähne. Er starrte zuerst meinen Vater an, dann mich, und schleuderte uns mit seinem Blick eine solch panische Wut entgegen, dass mir eiskalt wurde.
    „Geh weg von mir!“, fauchte er. „Lass mich los!“
    Dads Griff lockerte sich. Der Junge sprang auf, schnappte sich das Fell und sah mich an. Plötzlich kam es mir vor, als zweifelte er an seinem Fluchtplan. Verwirrung trat in seine Augen, und etwas wie … Wehmut? Nein, ich musste mich irren. Er hasste uns und hatte Angst. Alles, was er wollte, war die Flucht.
    „Wohin willst du gehen?“, fragte ich. „Du hast ja kaum genug Kraft, um aufrecht zu stehen.“
    Humpelnd wich der Junge zurück. Irgendetwas war geschehen, das ihn gebrochen hatte. Sein Blick war der eines Menschen, der gelernt hatte, niemandem zu vertrauen.
    „Du willst wirklich gehen?“ Sein Anblick zerriss mir schier das Herz. „Bist du dir ganz sicher?“
    „Lass mich raus“, forderte er.
    „Gut. Okay.“
    Es kostete ungeheure Mühe, zur Tür hinüberzugehen, sie aufzuschließen und beiseite zu treten. Salziger Wind brauste herein. Aromatisiert vom winterkalten Meer.
    Der Junge atmete tief ein, ohne seinen Blick von mir zu nehmen. Langsam wich der Zorn aus seinen Augen. Sie wurden warm und sanft wie das stille Meer in einer Sommernacht. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, bis mein Gesicht so heiß glühte, dass ich glaubte, es müsse platzen wie ein zu prall aufgeblasener Ballon.
    „Danke“, hörte ich ihn flüstern, dann rannte er davon. Hinaus in den Sturm.
    Ich starrte ihm hinterher, bis die Finsternis ihn verschluckte. Er war zum Meer hinuntergelaufen. Warum überraschte mich das nicht? Vielleicht waren die alten Legenden wahr. Vielleicht war mir in dieser Nacht ein Selkie begegnet, und die Magie, derentwegen ich die Märchen des Nordens so liebte, war Wirklichkeit geworden.
    „Na wunderbar.“ Lautlos wie ein Geist tauchte Dad neben mir auf und nickte hinüber zu den Hügeln, über die sich die tastenden Finger zweier Scheinwerfer kämpften. „Was erzählen wir denn jetzt dem Doktor?“
    Pierowall, am Tag danach
    Behutsam rieb ich die Blätter der Indischen Gewürzrinde zwischen meinen Fingern. Ein Duft nach gerösteten Nüssen strömte hervor, dessen Intensität unübertrefflich war. Diese Pflanze war zu Unrecht kaum bekannt. Ihre gelben Blüten strahlten tropische Lebensfreude aus, ihr Duft war betörend. Von der Gewürzrinde ging ich hinüber zu den tropfenden Palmen und atmete das Aroma nasser Erde ein. Schließlich landete ich bei den Orchideen, vertiefte mich im Studium ihrer filigranen Blüten und versuchte, meine Sorgen auszusperren. Vergeblich. Wieder und wieder durchlebte ich in Gedanken den vergangenen Abend.
    Der Arzt hatte Dad mit einer Tirade aus Flüchen überschüttet. Ich konnte es ihm nicht verübeln. Spät in der Nacht bei angekündigtem Schneesturm von Pierowall in unser Dörfchen zu fahren, nur um mit den Worten „Tut mir leid, war ein Irrtum“ wieder zurückgeschickt zu werden, war eine harte Nuss.
    Ob der Junge noch lebte? War er wirklich in das Meer gegangen?
    Ein Selkie. Ein lebendes Fabelwesen. Beim heiligen Kelpie, wenn das so war, würde das die gesamte Welt der Wissenschaft auf den Kopf stellen. In jedem Märchen konnte ein wahrer
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