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0754 - Der Zeitsauger

0754 - Der Zeitsauger

Titel: 0754 - Der Zeitsauger
Autoren: Christian Constantin
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Christine Worlington war auf dem Weg nach Hause, und sie war beschwippst. Nicht, dass sie viel getrunken hätte, aber Champagner stieg ihr immer direkt zu Kopf.
    Aber, sagte sie sich, sie hatte allen Grund, sich gut zu fühlen. Es war ein tolles Rendezvous gewesen, und Brian schien ein wirklich netter Kerl zu sein…
    Immer langsam, ermahnte sie sich in Gedanken, während sie in ihrer Handtasche kramte. Diesmal lässt du dir Zeit, den Typen wirklich kennen zu lernen, bevor du dich auf ihn einlässt.
    Wo war nur der verdammte Schlüssel? Sie stolperte über eine der Treppenstufen, die zu ihrem Apartment führten, und ließ fast ihre Tasche fallen.
    Kichernd über ihre Tollpatschigkeit wankte sie auf ihre Wohnungstür zu. Endlich fand sie den Schlüssel, steckte ihn ins Schloss, öffnete die Tür - und prallte zurück.
    Jemand war in ihrer Wohnung. Ungläubig starrte sie das Paar an, das sich nur ein paar Schritte von ihr entfernt mitten in ihrem Wohnzimmer umarmte.
    Wie konnte das sein? Die Tür war verschlossen gewesen, und einen Zweitschlüssel hatte niemand. Und sicher würde ein Einbrecher nicht erst ihr Schloss knacken, dann hinter sich absperren und darauf erst mal ein Techtelmechtel mit seiner Freundin beginnen!
    Hilflos stand sie vor diesem absurden Bild und überlegte, ob sie sich räuspern sollte oder weglaufen und die Polizei rufen. Aber was sollte sie sagen?
    Dass jemand in ihre Wohnung eingebrochen war, um zu fummeln? Das hörte sich zu lächerlich an, um glaubwürdig zu sein. Die Polizei würde auf einen solchen Anruf wohl kaum sofort mit Blaulicht anrücken.
    Ihr war zwar nicht wohl bei dem Gedanken, dass Fremde in ihrer Wohnung umherstöberten, aber sie hatte mit Sicherheit nicht vor abzuwarten, ob die beiden Turteltauben gewalttätig waren oder nicht. Besser, sie verschwand erst einmal…
    In diesem Moment drehte das Paar sich langsam um, und sie erhaschte einen Blick auf die Frau.
    Sie war alt, uralt.
    Falten durchzogen ihr Gesicht, ihr Körper war gebeugt und brüchig -aber der Mann wirkte jung und stark. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, da er jetzt mit dem Rücken zu ihr stand und er zudem einen altmodischen Hut trug, aber die Haltung und Statur sprach für jemanden, der noch im Vollbesitz seiner Kräfte war. Und dennoch küsste er gerade leidenschaftlich eine Frau, die mindestens neunzig sein musste…
    Die alte Frau stöhnte plötzlich, versuchte, sich von der Umarmung loszumachen. Und mit einemmal verstand Christine, dass das hier keine Liebesumarmung war, sondern eine Umklammerung.
    Die Frau versuchte, sich zu wehren, aber der Mann hielt sie unerbittlich fest, während er seine Lippen auf die ihren presste. Plötzlich riss die Frau die Augen auf, und Christine sah die Panik, die Todesangst darin.
    Aber nicht das war der Grund dafür, dass Christine Worlington aufschrie, dass sie sich umdrehte und zur Treppe stürzte. Was sie in rasender Angst flüchten ließ, war, dass sie die Augen der Frau kannte.
    Es waren ihre eigenen Augen.
    Auf eine Art und Weise, die sie nicht erklären konnte, war diese Frau sie selbst, war dieselbe Christine Worlington, nur auf schreckliche Weise um Jahrzehnte gealtert.
    Als sie die Treppe hinunterstürzen wollte, blockierte plötzlich jemand ihren Weg. Christine schaffte es gerade noch, anzuhalten und den anderen nicht umzurennen. Dunkel sah sie einen alten Mann mit hageren Gesichtszügen.
    Sie wollte schreien, ihn warnen oder verscheuchen, als er plötzlich »Hallo, Christine!« sagte und ein zahnloses Lächeln zeigte.
    In diesem Moment erkannte sie die Kleidung des Mannes: den langen, grauen Trenchcoat und den eigenartigen Hut. Sie hatte diesen Mann gerade in ihrer Wohnung gesehen - nur dass er jung gewesen war, so wie sie sich selbst als alte Frau gesehen hatte.
    Langsam wich sie zurück, fast gelähmt vor schierem Terror.
    »Bitte«, kam es ihr leise über die Lippen. »Bitte…«
    »Schhhhh…«, machte der Mann und legte einen Finger an die Lippen, während er sie langsam über die Schwelle ihrer Wohnung drängte. »Es ist gleich vorbei, Christine. Ganz ruhig. Schhhhh…«
    Sie stieß mit dem Rücken gegen eine Wand.
    Meine Wand, dachte sie mit traumwandlerischer Klarheit. Mein Heim. So etwas kann doch nicht passieren. Nicht hier.
    Natürlich, es musste ein Traum sein. Nichts von alledem geschah wirklich.
    Das ist ein Traum, das ist ein Traum, das ist ein Traum…, wiederholte sie in Gedanken immer wieder, während das Gesicht des Alten sich dem ihren
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