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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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kräftiger geworden zu sein. Ich wagte nicht, das als Anlass zur Hoffnung zu nehmen.
    „Das wird schon“, murmelte Dad. „Ganz bestimmt.“
    „Hmm“, brummte ich zurück. Ich hätte meinem Vater gerne zugestimmt, aber nüchtern betrachtet, lag ein schwer verletzter Mensch in unserem Wohnzimmer und war drauf und dran zu sterben. Vermutlich würde der Arzt die Hände über dem Kopf zusammenschlagen und uns augenblicklich die Polizei auf den Hals hetzen. Er mochte ein Freund meines Vaters sein, doch für das Vertuschen einer Straftat reichte die Freundschaft höchstwahrscheinlich nicht aus. Das Gericht würde uns unterlassene Hilfeleistung ankreiden. Die Beherbergung eines Verbrechers. Fahrlässige Tötung. Vielleicht sogar Mord.
    Ein Blick auf den Jungen ließ mich den Kopf schütteln. Unsinn. Ein Verbrecher war er definitiv nicht.
    Andererseits konnte man das vom Äußeren her natürlich nicht einschätzen.
    Ich schalt mich eine Närrin. Der Eindruck von Unschuld und Reinheit beruhte schlicht und einfach auf den oberflächlichen Reizen dieses Jungen. Darauf durfte ich rein gar nichts geben.
    Mit vor der Brust verschränkten Armen setzte ich mich auf die Sofalehne und lauschte. Wellen brandeten draußen gegen die Klippen. Der Wind heulte unter dem Dach, wie ich es normalerweise liebte, doch diesmal erinnerte mich sein Klagen an die Melodie zu Spiel mir das Lied vom To d. Laut dem Wetterbericht von heute Nachmittag würde der Sturm in etwa zwei Stunden Schneefälle bringen und Westray unter einer Schicht aus weißer Kälte begraben. Warum musste ich bei dieser Aussicht an ein Leichentuch denken?
    „Stirb nicht!“, befahl ich dem Jungen und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf ihn. „Ich werde wirklich sauer, wenn du stirbst. Wir haben auch so schon genug Sorgen am Hals.“
    Das stimmte allerdings. Die Gärtnerei meines Dads in Pierowall lief nicht besonders gut. Unsere Einnahmen reichten gerade aus, um die Schulden abzuzahlen und mehr schlecht als recht über die Runden zu kommen. Mein Traum war es, nächstes Jahr nach dem Schulabschluss in das Geschäft meines Vaters einzusteigen, doch wenn sich die Zahlen der Gärtnerei nicht deutlich verbesserten, würde mein Traum zerplatzen wie eine Seifenblase. Wie sagte man so schön? Ein Unglück kommt selten allein.
    Ich sah, wie die Augäpfel unter den Lidern des Jungen zuckten. Seine Lippen waren fest zusammengepresst und bewiesen mir, dass er selbst im Schlaf Schmerzen verspürte. Am liebsten hätte ich ihn in die Arme genommen, um sämtliches Leiden von ihm fernzuhalten.
    Was für ein blödsinniger Gedanke.
    Seufzend kehrte ich an den Computer zurück. Die Suchmaschine präsentierte mir sage und schreibe zweihundertachtunddreißigtausend Einträge zum Suchwort Selkie .
    Kurz entschlossen hastete ich noch einmal in die Küche. Als ich mit einem vollen Kaffeebecher ins Wohnzimmer zurückkehrte, stolperte ich über einen von Dads Pullovern. Ein Schwall des heißen Gebräus schwappte zielgenau auf meine Hand.
    Verdammt, dieses Haus war das pure Chaos.
    Zuerst waren es nur ein paar herumliegende Bücher und CDs gewesen, doch inzwischen glich unser Heim einem atomaren Testgelände. Zwischen bunt zusammengewürfelten Möbeln standen Bücherstapel, die bei der kleinsten Erschütterung umzufallen drohten. Auf den Regalen und Fensterbrettern reihten sich Pflanzen in allen Wachstumsstadien aneinander, während der Boden beinahe gänzlich unter herumliegenden Klamotten und leeren Pizzaschachteln verschwand. An den moosgrün gestrichenen Wänden wetteiferten gerahmte Fotos von Orchideen darum, die dickste Staubschicht tragen zu dürfen, und in einer gut zweihundert Jahre alten Vitrine tummelten sich Dads selbstgebastelte Buddelschiffe.
    Sofern der Junge wieder aufwachte, würde sein erster Eindruck miserabel ausfallen. Und verwundert, denn mein Vater und ich waren ein merkwürdiges Gespann. Wer mich sah, dachte an einen dürren, scheuen Rotfuchs, und wer meinen Vater sah, an einen primitiven Grobmotoriker mit den Ausmaßen eines gemästeten Brauereipferdes. Jeder war verblüfft, sobald er erfuhr, dass er ein klassikvernarrter Gärtner war, der in Tränen ausbrach, weil seine Laelia lobata eine neue Blüte hervorgebracht hatte. Und dass ich leidenschaftlich Butterkekse, Torten und Desserts verspeiste, getrieben von der Hoffnung, etwas rundlicher und weiblicher zu werden.
    „Also gut.“ Ich knackte mit den Fingern und rief die erstbeste Seite auf. „Was haben wir denn
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