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Die Goldhaendlerin

Die Goldhaendlerin

Titel: Die Goldhaendlerin
Autoren: Iny Lorentz
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1.
    Je näher sie ihrem Ziel kamen, umso stärker wirkten die Bäume rechts und links der Straße wie ein Spalier aus Dämonen, die jeden Moment erwachen und über die Reisenden herfallen konnten. Lea war bewusst, dass nur ihre Ängste aus den verkrümmten Stämmen und den mit langen Moosbärten bedungenen Ästen Körper machten, die in Qualen erstarrt auf ahnungslose Opfer ihres Zorns warteten. Seit sie zu Hause in die Kutsche gestiegen war, plagte sie eine böse Vorahnung, so als würde die erste Reise ihres Lebens auch ihre letzte sein. Sie drückte sich tiefer in die Polster, um den unangenehmen Lichtblitzen zu entgehen, die die grelle Sonne durch das Blätterdach warf, und musterte die Gesichter ihres Vaters und ihrer Geschwister, doch keiner von ihnen schien sich ebenso unbehaglich zu fühlen wie sie.
    Jakob ben Jehuda, den man in Hartenburg Jakob Goldstaub nannte, blickte versonnen lächelnd zum Fenster heraus, als genieße er die Fahrt in dem stickigen, rumpelnden Wagenkasten, während Samuel, Leas älterer Bruder, die Hände vor der Brust verschränkt hatte und sichtlich gelangweilt vor sich hinstarrte.
    Elieser, der zwischen ihr und ihrer Schwester saß, schien zu schlafen, und Rachel spielte mit einem Stück Faden, das sie sich um die Finger der rechten Hand wickelte. Trotz all der Gefahren, mit denen das Reisen in diesen Zeiten – insbesondere für Juden – verbunden war, schien es niemanden außer ihr zu beunruhigen, dass sie zum ersten Mal gemeinsam unterwegs waren und nur die Dienstboten das Haus hüteten. Wenn ihnen etwas zustieß, würde es keine Familie Goldstaub mehr geben.
    Um ihre düsteren Ahnungen zu verscheuchen, versuchte Lea an etwas Schönes zu denken, doch ihr Blick wanderte unwillkürlich wieder nach draußen, und ihr war, als würden Schatten zwischen den Bäumen heranschleichen, um sie zu erschrecken – oder zu warnen. Sie schloss die Augen und presste die Hände vors Gesicht, um nichts mehr sehen zu müssen, doch im gleichen Moment drang grelles Licht zwischen ihren Fingern hindurch. Sie ließ die Arme wieder sinken und sah, dass der Wald zurückgetreten war und einer offenen Bauernlandschaft Platz gemacht hatte. Erleichtert seufzte sie auf, und als sie den Kopf aus dem Kutschenfenster streckte, entdeckte sie die Mauern von Sarningen.
    Lea hielt überrascht den Atem an. Verglichen mit dem heimatlichen Hartenburg war die Stadt riesig. Es gab gleich vier hoch über die Stadtmauer ragende Kirchtürme, deren Kappen mit geschliffenen Schieferplatten in geometrischen Mustern geschmückt waren, und die hinter der Mauerkrone sichtbaren Dächer waren ebenso wie die Kirchen und die Türme in der Stadtmauer mit vielfarbenem Schiefer gedeckt.
    Die Kutsche fuhr nun über eine gewölbte Brücke, unter der die Sarn floss, und als sie den höchsten Punkt erreicht hatte, konnte Lea die blank polierten Rüstungen mehrerer Torwächter, die vor dem Südtor standen und die Reisenden kontrollierten, in der Sonne aufblitzen sehen. Anders als die Menschen zu Hause waren die Sarninger Bürger keinem Markgrafen Untertan, der wie Ernst Ludwig von Hartenburg als unumschränkter Souverän tun konnte, was ihm beliebte. Das hatte Lea Gesprächen zwischen ihrem Vater und ihren Brüdern entnommen, und sie hätte gern mehr über die Stadt erfahren. Sie sah ihren Vater fragend an, in der Hoffnung, er würde ihr erlauben, ihn anzusprechen. Sein Blick wanderte zwar ein paarmal über sie hinweg, aber er reagierte nicht auf ihre bittende Miene, sondern strich sich nur gedankenverloren über seinen langen, grauen Bart und betrachtete seine beiden Söhne mit sichtlichem Stolz.
    Jakob ben Jehuda war in diesen Stunden mit sich und der Welt so zufrieden, wie es ein gläubiger Jude in dieser Zeit sein durfte.
    Als Hoffaktor und Bankier des Markgrafen Ernst Ludwig von Hartenburg konnte er es sich erlauben, mit einem eigenen Wagen zu reisen, auch wenn sein Gefährt die meisten Leute zu Spott und Gelächter reizte. Von außen wirkte der Wagenkasten nämlich wie eine lieblos zusammengezimmerte Holzkiste auf vier Rädern, aber er war gut ausgepolstert, und die Lederbänder, in denen er hing, waren so geschickt angebracht, dass sie die Unebenheiten der Straße besser abfingen als die Aufhängungen der meisten anderen Kutschen.
    Mit der gleichen Sorgfalt, mit der Jakob ben Jehuda diese Karikatur eines Reisewagens hatte anfertigen lassen, waren auch die Pferde ausgesucht worden. Jeder, der die beiden schwerknochigen Tiere mit ihren
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