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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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wilden Zuckungen. Wieder und wieder.
    Tötete er das Tier, um zu mir zurückzukehren?
    Blasse, blutverschmierte Haut erschien unter dem Fell. Das Stöhnen des Seehundes veränderte sich, klang plötzlich menschlich. Ich griff in die Masse aus zerstörtem Tier, zog an dem Fell und streifte es über seinen kraftlosen Körper.
    „Mari …“
    Ein Wort, mit letzter Kraft ausgesprochen. Ein Wort, wie es unwirklicher nicht hätte klingen können. Ich zog Louan in meine Arme und schmiegte meine Wange an seine Stirn. Er hatte gesiegt. Das Tier hing in blutigen Fetzen von seinem Körper, doch für welchen Preis? Der befreite Mensch war schwach. So schwach, dass ich kaum seinen Herzschlag spürte.
    Nein, Louan war stärker als jedes andere Wesen, das ich kannte. Er würde es schaffen. Er hatte schon einmal den Tod besiegt.
    „Komm zurück“, wisperte ich. „Lass mich nicht allein.“
    Ich hielt meinen Selkie so fest, dass ich ihm vielleicht wehtat, doch ich konnte meinen Griff nicht lockern. Ich wiegte ihn, küsste ihn, streichelte ihn. Gischt durchnässte mich, doch es kümmerte mich nicht. Hinter dem Rauschen der Wellen fiel der Schnee lautlos vom Himmel. Eisig. Zeitlos.
    „Bist du wieder bei mir?“, flüsterte ich, als sein Zittern endlich aufhörte. „Für immer?“
    Unter meinen blutverschmierten Händen spürte ich das mühevolle Auf und Ab seines Brustkorbs.
    „Ja“, antwortete er matt. „Bin ich.“
    Seine Muskeln zitterten vor Anstrengung, als er sich zu mir hochbeugen wollte. Ich kam ihm entgegen, nahm sein Gesicht zwischen beide Hände und küsste ihn. Alles wurde gleichgültig. Mein Sein reduzierte sich auf diese eine Berührung. Auf das Meer, das an uns zog. Auf den Schnee, der uns bedeckte.
    „Ist das Tier tot?“, fragte ich ihn.
    „Nein“, kam es matt zur Antwort.
    „Woher weißt du das?“
    „Weil es ein Teil von mir ist. Immer. Solange ich lebe.“
    „Aber du sagtest, du könntest nie wieder zurückkehren.“
    „Das dachte ich auch.“ Er schmiegte sich an mich wie ein Kind, und die Verletzlichkeit, die dieser Geste anhaftete, katapultierte mich in unsere ersten gemeinsamen Momente zurück. Der sterbende Seehund auf der alten Decke. Sein matter Körper unter meinen Fingern.
    „Aber deine Gefühle holten mich zurück. Deine Worte.“
    „Welche Worte?“
    „Du hast mich gerufen. Lauter als je zuvor. Weißt du es nicht mehr?“
    Ja, ich erinnerte mich. Der Tag, als MacMuffin gestorben war. Aber es war eine undeutliche Erinnerung. Ich hatte den Tag zu erfolgreich verdrängt und mir nie erlaubt, ihn erneut zu durchleben.
    „Kamen die Erinnerungen deswegen zurück?“, fragte ich.
    „Ich weiß es nicht. Als ich dich sah und nicht zu dir kommen konnte, wurde ich wütend. So wütend, dass ich fast den Verstand verlor. Vielleicht hat mir das die Kraft gegeben.“
    Ich ließ die Tränen einfach laufen und drückte Louan so fest an mich, dass ich ihm ein Stöhnen entlockte. Dann wühlte sich ein anderer Gedanke an die Oberfläche. Nur schwer kamen die Worte aus meiner Kehle. „Raers Fell? Hast du es ihm zurückgegeben?“
    Louans Sinne schienen für einen Moment zu schwinden. Er zuckte zusammen wie aus einem Traum, dann sah er mit glasigem Blick zu mir auf. „Raer ist tot. Ich fand ihn am Grund des Meeres. Sein Fell gehört jetzt dir. Ich habe es gut versteckt.“
    Meine Erleichterung war wie ein Schatten unter einer Eisschicht aus Beklommenheit. Ganz gleich, wie viel Leid uns Raer zugefügt hatte, ein solches Ende verdiente niemand.
    Meine Lippen schmiegten sich an Louans Stirn. Ich schmeckte Meerwasser und Blut. „Verlasse mich nicht nochmal. Bitte.“
    Er lächelte matt. Ich spürte, wie sich seine Arme ganz langsam um mich schlossen. Nach und nach, mit jeder eiskalten Welle, kehrte die Kraft in seinen Körper zurück.
    „Niemals wieder“, wisperte er. „Ich schwöre es beim Salz der See.“
    Mein Lachen vermischte sich mit meinem Weinen. Wir küssten uns, bis uns der Atem wegblieb. Die Gefahr war nicht gebannt, ein Ende gut, alles gut gab es für uns nicht. Fischer hielten nach weißen Seehunden Ausschau, neugierige Menschen jagten nach Geheimnissen. Das Meer wurde mit jedem Tag kränker und die Möglichkeiten, sich zu verstecken, schwanden dahin.
    Louan und ich gehörten einer aussterbenden Rasse an. Wir beide waren die letzten Selkies. Doch all diese Gedanken streiften mich in jener Nacht nur aus der Ferne. Denn es zählte nur eins:
    Er war zu mir zurückgekehrt.
    Ende



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