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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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Hafen hinunter, sah MacMuffins Kutter am Pier liegen und wunderte mich, denn er lag noch genauso da wie gestern Abend, als ich dem alten Mann ein paar ausgelesene Bücher meines Vaters vorbeigebracht hatte. Hätte er heute nicht auf Fischzug gehen müssen? Vielleicht war das Wetter daran schuld. Düstere Wolken jagten so tief über Westray und das Meer hinweg, das man meinte, sie berühren zu können. Sturmwinde trieben meterhohe Brecher an die Hafenmauer und zerrten an meinen Haaren. Die Vorboten des nahenden Herbstes.
    Während der gesamten Woche hatte ich über MacMuffins Worte nachgedacht. Ich musste loslassen, darin behielt er recht. Wenn Louan blieb und den Fischern zum Opfer fiel, nur weil ich nicht die Kraft fand, ihn gehen zu lassen, würde ich mir das nie verzeihen. Nichts war schlimmer als das. Nicht einmal das lebenslange Gefühl, unvollkommen zu sein. Heute würde ich ihm sagen, dass ich nicht mehr mit ihm hinausfuhr.
    Niemals wieder.
    Fast wurde mir die Tür aus der Hand gerissen, als ich sie öffnete. Ächzend vor Anstrengung drückte ich sie wieder zu, ordnete mein zerzaustes Haar und hing meine Jacke an die Garderobe.
    „Mac?“, rief ich in die Stille hinein. „Bist du hier?“
    Keine Antwort. Es roch, wie es immer roch. Nach altem Mann, Pfeife und Fisch. MacMuffins Haus bestand aus drei winzigen, mit alten Möbeln vollgestellten Zimmern. Überall fanden sich Erinnerungen aus seiner Zeit als Seemann. Alte Postkarten aus allen Teilen der Welt. Vergilbte Fotos. Buddelschiffe, verstaubte Gemälde, Souvenirs aus fernen Ländern, nautische Geräte.
    Vielleicht hing MacMuffin noch in der Kneipe fest. Oder er war auf einem Spaziergang und hatte die Zeit vergessen.
    Mir fiel der Sessel am Fenster ins Auge. Aha, so war das also. Ich sah zwei Beine, die in einer durchgescheuerten, dunkelblauen Cordhose steckten. MacMuffin hielt also ein Nickerchen.
    Erst auf dem zweiten Blick fielen mir Dinge auf, die seltsam waren. Er hatte nicht gehört, wie ich die Tür zugeknallt hatte. Der Tabak war aus seiner Pfeife gerieselt, die er merkwürdig schief in der Hand hielt. Einer Hand, die schlaff über die Armlehne des Sessels baumelte. Im Teppich prangte ein von der Glut hineingebranntes Loch.
    „Mac?“
    Mein Körper wurde taub. Ich umrundete den Sessel und sah in sein Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen, sah aus, als schliefe er nur. Meine Hand streckte sich nach ihm aus. Sanft legte ich sie auf seine Schulter.
    „Mac?“
    Er fühlte sich eiskalt an. Leer, verlassen, hart wie Stein. Nur noch sein Körper saß vor mir. MacMuffin und alles, was ihn ausmachte, war gegangen.
    Nein! Es durfte nicht sein.
    Warum jetzt? Warum er?
    Nur bei ihm hatte ich Trost gefunden. Er und sein Kutter waren meine einzige Verbindung zu Louans Welt. Mein Leben lang war er immer für mich dagewesen. Ganz gleich, wie groß seine Sorgen gewesen waren, MacMuffin hatte stets ein offenes Ohr und tröstende Worte für mich bereitgehalten.
    Und jetzt hatte ich nicht nur Louan verloren, sondern auch ihn?
    Meine Betäubung hüllte die Welt in einen Schleier. Ich beobachtete mich selbst dabei, wie ich zum Telefon ging und Dads Nummer wählte. Zwölf Mal klingelte es, bevor er abhob.
    „Komm zu Mac“, sagte ich nur. „Bitte mach schnell.“
    Ich legte auf, ohne seine Antwort abzuwarten. Die Stille summte zuerst in meinen Ohren, dann kreischte sie. Der Geruch dieses Hauses, die Erinnerungen, die es füllten. Die Erinnerungen, die mich füllten.
    Ich wollte all das nicht mehr.
    Auf gefühllosen Beinen taumelte ich nach draußen, hinunter zur Hafenmauer.
    Ich setzte mich auf genau jene Stelle, wo Louan und ich damals gesessen hatten, Arm in Arm, um den Sonnenuntergang anzusehen.
    Die Sonne glitt auf den Horizont zu, versteckt hinter finsteren Wolkenbergen. Über allem lag Vergänglichkeit. Eine tote Möwe in ihrem Sarg aus Tang. Fischkadaver. Tausende leere Muschelschalen. Unzählige Tode in den Netzen, Hummerkörben und Reusen, Tag für Tag und Nacht für Nacht. Soviel Sterben dort draußen, regiert vom Spiel des Lebens.
    Lass es gut sein, Mari…
    Wenn ich gehen muss, dann sei nicht traurig.
    Es hat seinen Sinn, wenn du an Land bleibst. So wie alles seinen Sinn hat.
    Endlich kamen die Tränen. Sie strömten nach draußen, während mein Körper sich zitternd zusammenkrümmte. Sie liefen und liefen, bis nichts mehr in mir war.
    Als ich aufblickte, war die Welt dunkel und verschwommen.
    Wenn ich gehen muss, dann sei nicht traurig.
    „Louan, ich
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