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Sturmherz

Sturmherz

Titel: Sturmherz
Autoren: Britta Strauß
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Meer?
    Britta Strauß
    Die Seele des
Ozeans
    Leseprobe
    Kjell fand in dieser Nacht keine Ruhe.
    Mit zunehmender Ungeduld wälzte er sich hin und her, versuchte es mit Lesen, gab nach zwei Seiten auf, suchte sein Heil in Atemübungen und presste sich schlussendlich das Kopfkissen auf das Gesicht, weil er gehört hatte, dass das Inhalieren des eigenen Atems müde machte. Nichts von all dem brachte das Ersehnte. Was war nur los mit ihm? Das Knarzen des alten Hauses und das ferne Rauschen der Brandung hatten ihn immer sanft und wohltuend in das Reich der Träume geschickt, doch diesmal erschien ihm jedes Geräusch ohrenbetäubend. Die Welt verschwor sich gegen ihn. Selbst das Fließen seines eigenen Blutes und der Trippeln der Mäuse auf dem Dachboden brachte ihn um den Verstand. Das Klopfen seines Herzens klang wie eine Pauke, der Wind wie ein Chor, der aus Leibeskräften heulte und klagte.
    Als die Wut ihn packte und jede Hoffnung auf Ruhe scheitern ließ, warf er sich seinen alten, löchrigen Morgenmantel um, schlich nach unten und verließ das Haus. Ein nächtlicher Spaziergang am Strand würde helfen, dessen war er sich sicher.
    Salzige Luft schlug ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Kalt und wild. Die Luft Nordirlands, voll von der Gischt des Meeres und der Frische des Grases. Der Himmel war klar, das Meer ruhig. Die flachen Wellen schienen den Strand zu streicheln.
    Warum hatte er im Bett den Wind so laut gehört? Es ging kaum mehr als eine milde Brise, die unter dem Dach flüsterte.
    Einbildung, nichts weiter. Eine Täuschung seines übermüdeten Geistes.
    Auf der morschen Hausbank, umringt von brennenden Kerzen und bunten Windlichter, sah er seine Mutter sitzen. Sie wandte sich ihm zu und lächelte.
    „Kannst du auch nicht schlafen?“
    Kjell zuckte mit den Schultern, während eine schmerzhafte Form von Glück sein Herz zusammenkrampfte. Dieses Bild war einfach unvergleichlich. Seine Mutter mit ihrem langen weißen Haar, die Bank, die Kerzen und das uralte Haus, des bereits Dutzende Generationen erlebt hatte. Für ihn der Inbegriff von Heimat. Und von Nachhausekommen.
    Kjell setzte sich neben Fae und wartete, bis sie das Wort ergriff. Ihr Haar reflektierte das Mondlicht und floss über die mageren Schultern wie flüssige Spinnenseide. Vor vielen Jahren war seine Mutter wie er durch die Welt gereist, zusammen mit ihrem Bruder und seinen beiden Freunden. Das ganze Wohnzimmer hing voller Fotos. Zeugnisse wundervoller Erinnerungen. Doch eines hatten alle Fotos gemein: Auf keinem lächelte Fae. Immer blickte sie an dem Fotografen vorbei, als wäre nur ihr Körper anwesend, nicht aber ihr Geist.
    Vor zweiundvierzig Jahren war sie im Monat seiner Geburt hierher zurückgekehrt. Kjell konnte ihre Wahl nur zu gut nachvollziehen. Dieser einsame Platz auf den Klippen war mit nichts in der Welt zu vergleichen. Das Wetter mochte rau sein, das Meer kalt und der Strand mit all seinem verrottenden Tang und dem Treibgut weit entfernt von makelloser Bilderbuchidylle.
    Aber es lag etwas in der Luft. Eine Form von unverfälschter Freiheit. Der Blick ging weit über das Meer, das Licht am Abend und am Morgen war schwer von Melancholie.
    Für Kjell steckte dieser Ort voller Erinnerungen. Schöner, wehmütiger Erinnerungen. Es war sein Refugium. Der Platz, an dem seine Seele ausruhen konnte. Kam er hierher, fühlte sich jeder Tag wie ein dreiwöchiger Urlaub an. Und eine Woche reichte, um wieder zu sich selbst zu finden.
    Sein Leben, das er sonst mit Vorträgen, Einsätzen und sonstigen Projekten verbrachte, erschien ihm hier ebenso fern wie surreal. Sein Herzschlag verlangsamte sich, seine Seele fand flüchtigen Frieden. Nichts berührte ihn so sehr wie der Anblick des nordischen Meeres.
    Jeden Tag schwamm er darin und wusste in den Augenblicken, in denen er durch das Wasser tauchte, dass er ganz er selbst war. Absolut und vollkommen er selbst. Der Gedanke, all das übermorgen wieder hinter sich zu lassen, schmerzte mehr denn je.
    „Ich möchte dir etwas schenken“, ergriff Fae das Wort. „Ich habe lange gewartet. Auf den richtigen Zeitpunkt. Jetzt ist er gekommen.“
    Sie griff neben sich, hob ein Buch auf und reichte es ihm.
    Es war alt und abgegriffen, sicher schon mehrere Jahrzehnte alt. Der Geruch nach Staub und modrigem Papier stieg ihm in die Nase.
    Kjell nahm es entgegen und drehte es behutsam hin und her. Eine wunderschöne Frau zierte das Cover. Nackt, mit anmutig vor der Brust gekreuzten Armen. Offenbar befand sie
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