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Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies

Titel: Das Buch von Eden - Die Suche nach dem verlorenen Paradies
Autoren: Kai Meyer
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ERSTES BUCH
HüTER DER LUMINA
    WORIN WIR VON UNGEHEUERLICHEM
    ERFAHREN .
    UND EINE AHNUNG
    VON DEN WUNDERN DER
    WELT ERHALTEN .
    L IBUSE IM WINTERWALD
    D ie Eife l A nno domini 1257
    E s hatte aufgehört zu schneien, während der junge Mönch auf das Mädchen wartete.
    Satt und schwer lag der Winter über den Wäldern. Längst war der Schnee durch das Dach der Tannenwedel und laublosen Äste gesunken und bedeckte kniehoch den zerklüfteten Boden. Fichtenwipfel verbargen sich unter weißen Hauben, spitz und Ehrfurcht gebietend wie Henkerskapuzen. Hin und wieder rieselten Vorhänge aus Eiskristallen in die Tiefe, wenn sich irgendwo ein Tier regte.
    Das Mädchen kam spät an diesem Tag.
    Aelvin rieb sich ungeduldig die steif gefrorenen Finger. Gewiss, er konnte ihr schwerlich einen Vorwurf machen; sie wusste ja nicht, dass er sie erwartete. Vielmehr wäre sie wohl gar nicht erst aufgetaucht, hätte sie geahnt, dass er sie aus seinem Versteck im Unterholz beobachtete. Oder, nein, verbesserte er sich im Stillen, sie wäre sogar ganz bestimmt gekommen – allerdings mit einem starken Knüppel in der Hand, und ehe er sich ’ s versah, hätte sie ihm wohl eine Tracht Prügel verabreicht.
    Der Gedanke daran hätte ihn schmunzeln lassen, wären seine Züge nicht längst zu einer eisigen Maske erstarrt. Vor einer Weile hatte seine Haut zu brennen begonnen. Seine Finger und Füße taten weh, aber immerhin spürte er sie noch. Was in Anbetracht der Umstände durchaus ein Grund zur Freude war, Gott sei ’ s gedankt.
    Libuse – das war ihr Name. Er hatte ihn aufgeschnappt, als sie einmal mit ihrem Vater zur Abtei gekommen war. Es geschah nicht oft, dass der Furcht einflößende Alte seinen einsamen Turm in den Wäldern verließ, um die Mönche zu besuchen. Dass er dieses eine Mal gar seine Tochter mitbrachte, hatte tagelang für Gesprächsstoff gesorgt. Später wurde gemunkelt, er habe den Abt gebeten, das Mädchen am Unterricht der Novizen teilnehmen zu lassen. Was dieser – wen wundert ’ s? – unter schärfstem Protest abgelehnt hatte. Erzürnt hatte Libuses Vater daraufhin mehrere Monate lang nichts mehr von den Mönchen gekauft. Erst seit einer Weile verließ er gelegentlich wieder die Wälder, um im Kloster das Nötigste zu besorgen und auf seinen mächtigen Ochsenschultern davonzutragen. Manchmal ward er wochenlang nicht gesehen, dann wieder erschien er innerhalb weniger Tage gleich mehrfach an der Klosterpforte, wortkarg und nie um einen finsteren Blick verlegen, wenn ihm einer der Mönche zu nahe kam.
    Aelvin zog den Rand der Kapuze unter seinem Kinn zusammen, damit sie sich noch enger um seinen Kopf legte. Nicht, dass es einen Unterschied machte. Der messerscharfe Wind drang durch den groben Wollstoff und schnitt in seine Ohren. Odo hatte ihn gewarnt, dass es Wahnsinn sei, sich bei solch einer Kälte im Wald auf die Lauer zu legen, nur um einen Blick auf Libuse zu erhaschen . Eine Hexe sei sie, erzählten manche im Kloster, weil sie es nicht ertrugen, junges Mädchenfleisch in ihrer Nähe zu wissen. Eine Hexe, jawohl, und mit dem Leibhaftigen im Bunde. Warum sonst kröche sie nachts in die Träume der braven Zisterzienser, um sich ihnen in Sünde feilzubieten?
    Aelvin war nicht sicher, ob das, was ihm bei Libuses Anblick durch den Kopf ging, tatsächlich sündig war. Zugegeben, er schämte sich dann und wann dafür – so hatte man es ihn in den vergangenen Jahren gelehrt –, und in seinen Gebeten bat er den Herrn um Vergebu ng. Aber er hatte es sich abgewö hnt, das Mädchen in der Beichte zu erwähnen. Nicht so sehr aus Furcht vor Strafe oder dem mahnenden Blick seines Beichtvaters, sondern weil er fürchtete, sie in noch größeren Verruf zu bringen.
    Aelvin war sechzehn, noch ein Novize, und wie alle Zisterzienser trug er außerhalb des Chors eine weiße Kutte mit schwarzem Skapulier, ein schulterbreites Wolltuch, das von der Kapuze herabfiel und Rücken und Vorderseite des Körpers bedeckte. Das Cingulum, ein schmales Lederband, gürtete Kutte und Skapulier in der Körpermitte; es war das Zeichen mönchischer Keuschheit und Würde. Abt Michael hatte einmal zornig vorgeschlagen, Aelvin das Cingulum lieber um den Hals zu schnüren: Vielleicht geriete ihm seine tiefere Bedeutung dann nicht gar so oft in Vergessenheit. Das war vor einem halben Jahr gewesen, als Aelvin dem Bruder Benediktus, Küchenmeister und ewig geizig mit dem Honig, frische Pferdeäpfel in die Kapuze gelegt hatte – was diesem erst aufgefallen
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