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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich
Autoren: Dennis Lehane
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es nicht allein. Ich wußte von Roland nur, daß er nicht so war wie sein Vater. Er lullte einen nicht mit ein paar Worten und hypnotischem Blick ein. Roland trat auf sein Opfer zu und schickte es ohne Umwege in den Sarg.
Auch fiel mir jetzt etwas anderes auf: Der Junge war riesig. Wie er so vor mir stand, flößte er mir fast Ehrfurcht ein. Er war an die einsneunzig, und jeder Quadratzentimeter Haut auf seinem Körper spannte sich über straffe Muskeln. Ich bin einsachtzig und fühlte mich wie ein Zwerg.
Er blieb auf einem abgenutzten Feld stehen, das darauf wartete, als Bauland ausgewiesen zu werden; der Ort, den das Big Business als nächstes einnehmen würde, an dem es sich ausbreiten würde. Roxbury würde weiter nach Westen oder Osten geschoben, bis diese Stelle hier zu einem weiteren South End würde, wo man einen trinken gehen und die gerade angesagte Musik hören konnte. Und die Leute von Roxbury würden sich ebenfalls nach Osten oder Westen verziehen, während die Politiker Bänder durchschnitten, die Hände von Unternehmern schüttelten und von Fortschritt redeten, stolz auf die fallende Kriminalitätsrate in dieser Gegend wiesen - und die steigende Kriminalitätsrate in der Gegend ignorierten, in der sich die von ihrem angestammten Platz Vertriebenen niedergelassen hatten. Roxbury würde wieder eine schöne Welt werden, und Dedham oder Randolph dafür ein bißchen häßlicher. Und wieder hätte sich ein früher intaktes Viertel aufgelöst.
Roland begann: »Ihr beiden habt Marion umgelegt.«
Wir sagten nichts.
»Habt ihr gedacht, ich würde mich… darüber freuen? Ja? Daß ich euch in Ruhe lasse?«
Ich antwortete: »Nein. Das hatte in dem Moment nicht viel mit dir zu tun, Roland. Er hat uns angekotzt. Das war alles.«
Er blickte mich an, dann das Feld hinter uns. Wir waren nicht sehr weit von den verfallenen Mietwohnungen entfernt, wo er uns letzte Nacht herumgescheucht hatte. Um uns herum befanden sich heruntergekommene Häuser und hier und da vereinzelte Flächen, wo gebaut wurde. Nicht viel mehr als ein Steinwurf von Beacon Hill entfernt.
Er schien meine Gedanken zu lesen. »Ja, stimmt«, sagte er. »Wir sitzen hier vor eurer Haustür.«
Ich blickte mich um, sah die Skyline über uns in der Nachmittagssonne glitzern, so nahe, daß man nach ihr hätte greifen können. Wie es wohl war, wenn man hier lebte - so nah dran an der anderen Welt mit dem Wissen, daß man diese nie erreichen würde? Nur ein paar Meilen und doch eine Welt entfernt.
»Na ja«, erwiderte ich.
Roland sagte: »So wird es nicht ewig weitergehen. Ihr könnt uns nicht aufhalten.«
Ich antwortete: »Roland, wir haben dich nicht erschaffen. Versuch nicht, das auch noch dem weißen Mann anzulasten. Dein Vater und du selbst haben dich zu dem gemacht, was du bist.«
»Und was bin ich?« fragte er.
Ich zuckte mit den Achseln. »Eine sechzehn Jahre alte Mordmaschine.«
»Verdammt richtig«, bestätigte er. »Verdammt richtig.« Er spuckte links neben meinen Fuß. »Aber so war ich nicht immer.«
Ich dachte an den dürren Jungen auf den Fotos und versuchte mir vorzustellen, welche gutmütigen, vielleicht sogar hoffnungsvollen Gedanken ihm durch sein Gehirn gegangen waren, bevor es ihm jemand ausgebrannt hatte, die Sicherungen zum Schmelzen brachte, bis das Gute einfach aus ihm verschwinden mußte, um dem Bösen Platz zu machen. Ich blickte den sechzehnjährigen Mann vor mir an, den massigen, klotzigen Brocken mit dem kaputten Auge und dem Gipsarm. Es wollte mir einfach nicht gelingen, den einen mit dem anderen in Verbindung zu bringen.
»Tja«, fing ich wieder an, »wir sind alle mal kleine Jungen gewesen, Roland.« Ich sah Angie an. »Und kleine Mädchen.«
Roland setzte an: »Der weiße Mann…«
Angie ließ die Einkaufstüten fallen und unterbrach ihn: »Roland, wir hören uns nicht diese Scheiße über den weißen Mann an. Wir wissen alles über den weißen Mann. Wir wissen, daß er die Macht hat, und wir wissen, daß der schwarze Mann sie nicht hat. Wir wissen, wie diese Welt funktioniert, und wir wissen, daß es zum Kotzen ist. Wir wissen das alles. Uns selbst finden wir auch nicht besonders toll, aber was soll man da machen. Und wenn du ein paar Vorschläge hättest, wie man das Ganze zum Besseren wenden könnte, hätten wir ein Gesprächsthema. Aber du bringst Menschen um, Roland, und du verkaufst Crack. Da kannst du doch nicht erwarten, daß man dich auf Händen trägt.«
Er grinste sie an. Es war nicht gerade das wärmste Lächeln, das
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