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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich
Autoren: Dennis Lehane
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ich je gesehen hatte - Roland strahlte ungefähr soviel Wärme aus wie das Polarmeer, doch war es auch nicht vollkommen kühl. »Kann sein. Kann sein«, antwortete er. Mit der freien Hand kratzte er die Haut über dem Gips. »Ihr habt… diese Sache aus den Zeitungen herausgehalten, vielleicht meint ihr deswegen, ich schulde euch was.« Er sah uns an. »Ist aber nicht so. Ich schulde keinem was, weil ich nie einen um was bitte.« Nun rieb er sich die Haut neben dem verletzten Auge. »Aber andererseits sehe ich keinen großen Sinn mehr darin, euch umzulegen.«
Ich mußte mir in Erinnerung rufen, daß er sechzehn Jahre alt war.
»Roland, darf ich dich was fragen?« wollte ich wissen.
Er runzelte die Stirn und schien plötzlich gelangweilt zu sein. »Schieß los!«
»Dein ganzer Haß, deine Wut - sind die weniger geworden, als du gehört hast, daß dein Vater tot ist?«
Mit dem Fuß drehte er einen Hohlziegel um und zuckte mit den Achseln. »Nein. Vielleicht, wenn ich selbst abgedrückt hätte, dann vielleicht.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ist aber nicht so.«
Er stieß gegen einen anderen Ziegel. »Nee«, lenkte er ein, »wahrscheinlich nicht.« Er blickte an dem Gestrüpp und den Mietshäusern vorbei auf die andere Seite des Geländes, vorbei an den Mauersteinen, aus denen Metalldrähte wie Fahnenstangen emporragten.
Sein Reich.
Er sagte: »Geht nach Hause, ihr beiden. Ihr vergeßt mich und ich euch.«
»Abgemacht«, willigte ich ein, hatte dabei aber das Gefühl, ich würde Roland nie vergessen, selbst nicht, nachdem ich seine Todesanzeige gelesen hätte.
Er nickte eher sich als uns zu und schickte sich an zu gehen. Als er die Spitze eines kleinen Hügels aus Bauschutt erreicht hatte, hielt er inne, sein Rücken uns zugewandt. »Meine Mutter, die war in Ordnung«, sagte er. »Anständig.«
Ich nahm Angies Hand in meine. »Das stimmt«, erwiderte ich. »Aber sie wurde nie gebraucht.«
Leicht bewegten sich seine Schultern, vielleicht ein Zucken, vielleicht etwas anderes. »Das kann wohl sein«, sagte er und ging weiter. Er überquerte das Gelände, und wir sahen ihm nach. Während er sich den Mietshäusern näherte, wurde er langsam kleiner. Ein einsamer Prinz auf seinem Weg zum Thron, der sich fragte, warum er sich nicht so gut fühlte, wie er gedacht hatte.
Wir sahen ihn durch eine dunkle Türöffnung verschwinden, und vom Ozean her kam Wind auf, kühl für diese Jahreszeit, blies mit eisigen Fingern in nördliche Richtung, vorbei an den Mietskasernen, vorbei an uns, wühlte in unserem Haar und weitete unseren Blick, fegte ins Herz der Stadt. Angies warme Hand schloß sich fest um meine, und wir kehrten um, gingen an einem Schutthaufen vorbei und folgten dem Wind in unseren Teil der Stadt.
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