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Streng vertraulich

Streng vertraulich

Titel: Streng vertraulich
Autoren: Dennis Lehane
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Last unseres Gewissens.
    Angie hatte schon die halbe Flasche leer, als sie fragte: »Was ist hier los?«
Sie stand auf, hielt die Weinflasche locker zwischen Zeigeund Mittelfinger und ließ sie gegen den Oberschenkel prallen.
Ich erhob mich ebenfalls, war aber nicht sicher, ob ich schon bereit war für die Auseinandersetzung. Ich holte mir noch zwei Bier und antwortete: »Wir haben jemanden umgebracht.« Es klang einfach.
»Kaltblütig.«
»Kaltblütig.« Ich öffnete eine Dose und stellte die andere neben den Stuhl auf den Boden.
Sie leerte ihr Glas und schenkte nach. »Er war nicht gefährlich für uns.«
»Nein, in dem Moment nicht.«
»Aber wir haben ihn trotzdem umgebracht.«
»Wir haben ihn trotzdem umgebracht«, sagte ich. Das Gespräch war nicht gerade geistreich und wiederholte sich, doch hatte ich das Gefühl, daß wir beide versuchten, genau auszudrücken, was wir getan hatten, ohne Ausreden, ohne Lügen, die später wiederkehren und uns heimsuchen würden.
»Warum?« fragte sie.
»Weil er abstoßend war. Moralisch.« Ich trank etwas Bier. Es schmeckte wie Wasser.
»Wir finden viele Leute moralisch abstoßend«, entgegnete sie. »Bringen wir die auch um?«
»Glaub’ ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Haben nicht genug Munition.«
»Ich will darüber keine Witze machen. Jetzt nicht«, mahnte sie mich.
Sie hatte recht. »Sorry«, entschuldigte ich mich.
»In der Situation würden wir es wieder tun«, stellte sie fest.
Ich dachte an Socia, der das Foto hochhielt und seinem Sohn mit dem Finger zwischen die Beine fuhr. »Ja, stimmt«, bestätigte ich.
»Er war ein Raubtier«, bemerkte sie.
Ich nickte.
»Er ließ seinen Sohn für Geld mißbrauchen, deshalb haben wir ihn umgebracht.« Sie nahm einen Schluck Wein, doch trank sie jetzt nicht mehr so hastig. Sie stand noch immer mitten im Zimmer, wippte hin und wieder langsam auf dem linken Fuß und ließ die Flasche wie ein Pendel zwischen den Fingern schwingen.
»Das kommt ungefähr hin«, antwortete ich.
»Paulson hat so was Ähnliches gemacht. Er hat den Jungen mißbraucht und wahrscheinlich noch hundert andere. Das wußten wir. Ihn haben wir aber nicht umgebracht.«
Ich erwiderte: »Socia haben wir im Affekt umgebracht. Als wir zu dem Treffen gingen, wußten wir nicht, daß wir es tun würden.«
Sie gab ein kurzes gezwungenes Lachen von sich. »Haben wir nicht? Und warum haben wir dann einen Schalldämpfer mitgenommen?«
Ich ließ die Frage im Raum stehen, ich wollte sie nicht beantworten. Schließlich versuchte ich es: »Vielleicht gingen wir dahin und wußten, daß wir ihn umbringen würden, wenn wir nur den geringsten Grund fänden. Er hatte es verdient.«
»Paulson auch. Der lebt.«
»Wenn wir Paulson umbringen würden, würden wir in den Knast wandern. Socia interessiert keinen. Man wird es auf den Krieg der Gangs schieben und froh sein, daß er weg ist.« »Wie praktisch für uns.«
Ich stand auf und ging zu ihr rüber. Ich legte ihr die Hände auf die Schultern und stoppte ihr langsames Hin- und Herwiegen. »Wir haben Socia im Affekt getötet«, wiederholte ich, als ob es dadurch wahrer werden würde. »An Paulson kamen wir nicht ran. Er ist zu gut abgeschirmt. Aber wir haben ihn auch erledigt.«
»Auf sehr zivilisierte Art.« Das sagte sie so verächtlich, wie manche Leute von Steuern reden.
»Ja«, bestätigte ich.
»Also haben wir Socia nach den Gesetzen des Dschungels erledigt und Paulson nach den Gesetzen der Zivilisation.«
»Genau.«
Sie sah mir in die Augen, ihr Blick war glasig vom Alkohol, von der Erschöpfung und quälenden Gedanken. Dann sagte sie: »Wir benehmen uns offenbar nur dann zivilisiert, wenn es uns in den Kram paßt.«
Da gab es nicht viel zu widersprechen. Ein schwarzer Zuhälter war tot, und ein weißer Kinderschänder bereitete irgendwo bei einer Flasche Chivas Regal eine Presseerklärung vor, obwohl der eine genausoviel Schuld hatte wie der andere.
Menschen wie Paulson würden sich immer hinter ihrer Macht verstecken können. Vielleicht fielen sie in Ungnade, vielleicht saßen sie sogar sechs Monate in einem komfortablen Bundesgefängnis ab und stellten sich der öffentlichen Kritik, doch würden sie weiterleben. Vielleicht würde Paulson das Ganze relativ unbeschadet überstehen. Vor ein paar Jahren war ein Kongreßabgeordneter wiedergewählt worden, der zugegeben hatte, mit einem fünfzehnjährigen Jungen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Ich schätze, für einige Leute ist alles relativ, sogar die Vergewaltigung von
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