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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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vor allem damit beschäftigt, bei den Kassen etwaige Zweifel daran auszuräumen, dass da wirklich eine ernsthafte Krankheit besteht, die gewisse Folgekosten nach sich zieht. Glaubt man ernsthaft, Menschen nehmen sich ihren Krebs, ihre Demenz oder einen Schlaganfall nur wegen des vielen Geldes, anstatt einer geregelten Arbeit nachzugehen? Sämtliche Entlassungspapiere aller Kliniken, in denen meine Mutter bislang war, dokumentieren ihren elenden Zustand. Trotzdem muss eigens ein Antrag auf Pflegegeld gestellt, ein »Vorbewertungsbogen zur pflegerischen Versorgung« ausgefüllt werden. Als Antragsteller nimmt man mit Unterschrift zur Kenntnis, dass »der MDK zu einem Hausbesuch verpflichtet ist« (eine seltsame Formulierung – als würde ein höheres Wesen die Regeln machen. Es klingt wie früher zu Zeiten der Prügelstrafe, als man Kindern sagte, die Schläge würden ohnehin jenen sehr viel mehr schmerzen, der sie austeilt). Umgekehrt hat auch der Antragsteller Pflichten, nämlich die, sich in seinen vier Wänden untersuchen zu lassen, Ärzte von der Schweigepflicht zu entbinden, »dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung ( MDK ) vorhandene ärztliche Berichte, Gutachten und Befunddokumentationen zur Einsichtnahme zur Verfügung« zu stellen. Nach der Begutachtung macht der MDK -Mitarbeiter der Pflegekasse einen begründeten »Einstufungsvorschlag«. Der Pflegebedürftige bekommt dann den Einstufungsbescheid und rückwirkend ab Datum der Antragstellung die bewilligten Leistungen der Pflegekasse. Man kann jederzeit eine Höherstufung beantragen, um damit das gleiche Procedere in Gang zu setzen. Aber vorerst gibt es nur diesen einen Hausbesuch, der meist eine halbe Stunde dauert und dem Angehörige mit ähnlich viel Vorfreude entgegensehen wie einer Wurzelresektion. Einerseits. Andererseits kann es einen schon finanziell ganz schön in die Enge treiben, wenn der MDK , was häufig vorkommt, bis zu seinem Besuch wochenlang Zeit verstreichen lässt. Dann sieht man diesem Besuch sehnsüchtig entgegen.
    Das größte Problem aber ist: Die meisten älteren Menschen schämen sich, sich einem Besucher, einem Fremden gar, hilflos zu präsentieren. Viele haben Angst, ins Krankenhaus oder ins Pflegeheim abgeschoben zu werden, sollte die Performance nicht mehr stimmen. Wollen es – wie gut man das verstehen kann – auf keinen Fall offiziell machen, wie viele Fertigkeiten und wie viel Selbstständigkeit dem Alter und/oder einer schweren Krankheit geopfert werden musste. Eine Freundin hatte wochenlang auf ihre an einer beginnenden Demenz leidenden Mutter eingeredet, wie wichtig es sei, bei der Wahrheit zu bleiben, wenn sie nach ihren Beschwerden gefragt werden würde: dass sie nachts in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung die Orientierung verliert; dass sie manchmal stürzt, dass sie nicht mehr selbst kochen oder gar einkaufen kann. Dass sie einfach vergisst auf die Toilette zu gehen. Als der Gutachter vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherungen dann im Wohnzimmer der alten Dame saß, gab sie sich so fit, dass man hätte glauben können, 80 wäre die neue 60. »Ich war fassungslos«, sagt meine Freundin. »In so gutem Zustand hatte ich sie seit Monaten nicht mehr erlebt.« Natürlich gab es für diese vorbildliche Vortäuschung eines Best Agers keine Pflegestufe. Dagegen wird umgekehrt der bevorzugt, der die Imitation eines Ernstfalls geradezu veronikaferresmäßig rüberbringen kann: eher die Minderheit in der älteren Generation. Für die Pflegekasse ist es natürlich praktisch, mit einem Klientel zu tun zu haben, das sich so geniert, zuzugeben, nicht mehr selbst essen oder sich waschen zu können, das sich gerade dann zusammenreißt, wenn jemand Fremdes im Wohnzimmer sitzt und fragt: »Wie viele Toilettengänge sind das so, die Sie mit Ihrem Mann in der Nacht machen müssen?«
    Diese indiskrete und auch entwürdigende Frage wird in einer Fernsehreportage über die Arbeit des MDK einer hochbetagten Frau gestellt, die an Lungenkrebs im Endstadium leidet. [100] Die Frau verbringt ihre letzte Zeit zu Hause mit ihrem Mann. Auch er ist sehr alt, kränklich und mit der Pflege seiner Frau überfordert. Eine höhere Pflegestufe würde helfen: mehr Geld, mehr Pflegedienst, auch mehr Zeit, einfach mit seiner Frau zusammen zu sein. Wie jeder dritte Antrag auf eine Pflegestufe oder auf Erhöhung einer Pflegestufe [101] wird auch dieser abgelehnt. Typisch. Denn zu Hause betreuten Pflegebedürftigen werden doppelt so häufig Leistungen
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