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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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verwehrt wie jenen, die in einem Pflegeheim leben. Die Frau stirbt ein paar Tage später. Ihr Ehemann tut, was allen dringend zu empfehlen ist, denen ein Antrag abgelehnt wurde: Er legt gegen die Entscheidung des MDK Widerspruch ein. Mit Erfolg. Nun wird rückwirkend ab Antragstellung Pflegestufe III bezahlt. Der Ehemann sagt, es sei ihm wichtig gewesen, dass die Schwere der Krankheit und der damit verbundene Pflegeaufwand wenigstens posthum anerkannt werden. Auch der Prüfer vom Medizinischen Dienst kommt noch einmal zu Wort. Er erklärt, weshalb nun geht, was vorher nicht gehen sollte: »Das (wohl das Sterben) hat mich schon betroffen gemacht, weil ich es auch in der Situation so gar nicht absehen konnte, obwohl natürlich so ein schweres Krankheitsbild vorlag … aber es war für mich nicht so ersichtlich.« Ja, eine Schwerkranke mit der Sauerstoffflasche neben dem Sessel, die vor lauter Japsen kaum noch sprechen kann, ist natürlich ein richtig schwieriges Bilderrätsel. Was wird erwartet: Das ganz große Theater einer La-Traviata-Aufführung? Die Violetta im Todeskampf? Die letzten Atemzüge der Mimi in »La Bohème?« Sollte man beim Senioren-Café vielleicht einmal über Alternativen zum Auftritt der Kinderturngruppe nachdenken? Man könnte nach der Devise ›von den Besten lernen‹ profilierte Heulsusen wie Fußballer Andi Möller oder Christian Wulff einladen, um Rentnern das publikumswirksame Wimmern und Greinen beizubringen. Die VHS könnte von Töpfern für Senioren auf ›Todeskampf für Fortgeschrittene‹ umsteigen. Warum nicht gleich einen Oscar für die beste Darstellung einer Pflegestufe III ?
    Vorerst aber haben wir ein ganz anderes Problem. Der Medizinische Dienst lässt sich Zeit. Bis er sein Gutachten erstellt hat, gilt aber für meine Mutter ›vorläufig‹ Pflegestufe I . Sie wird behandelt wie jemand, der allenfalls Hilfe braucht, um morgens aus dem Bett zu kommen, beim Waschen von Intimbereich ›und Unterkörper‹. Der sich Hose und Strümpfe nicht allein anziehen kann und zwei Mal wöchentlich Hilfe beim Baden und Haarewaschen benötigt. Was über diesen Pflegebedarf hinausgeht, muss von uns vorfinanziert werden, beziehungsweise wir müssen eine Kostenübernahme garantieren. Sollte der MDK -Prüfer feststellen, dass meine Mutter so krank gar nicht ist, würden wir auf diesen Kosten sitzenbleiben. Da können in der Zeit, die der Gutachter braucht, schon einige Euros zusammenkommen. Fast jeder dritte Antrag, das geht aus einer Statistik des MDK hervor, wird nicht innerhalb von vier Wochen bearbeitet. Da Gutachten ja unter Umständen noch per Post verschickt werden, kann es fünf Wochen dauern. Für jeden Tag länger, so ein Referentenentwurf des Bundesgesundheitsministeriums zur Pflegereform, soll man dann in Zukunft 10 Euro erhalten. [102] Bei uns kündigt sich der Gutachter vier Wochen nach Antragstellung überhaupt erst an. Mit dem – nach einer so langen Wartezeit reichlich unverschämten – Hinweis »Bitte beachten Sie, dass eine Verschiebung des Termins durch Sie zu einer Verlängerung der Bearbeitungszeit führt.« Uns wird ja keine Gunst gewährt oder eine Gefälligkeit erwiesen, wir sind keine Bittsteller, wir haben den Laden, der Herrn P. beschäftigt, eigentlich mitfinanziert und hätten etwas Respekt verdient. Bekommen wir aber nicht. Stattdessen müssen wir endlos warten. Herr P. hatte für seinen Besuch ein ohnehin üppiges Zeitfenster von 13.30 bis 16.30 Uhr angegeben: »Da sich die Hausbesuche immer an der individuellen Situation und Problematik der Pflegebedürftigkeit orientieren, kann Ihnen leider keine feste Uhrzeit des Begutachtungstermins angeboten werden.« Wozu auch. Schwerstkranke sind für ihre Angehörigen im Denken des MDK offenbar so etwas wie eine elektronische Fußfessel. Es wird 16.30 Uhr, kein Herr P. in Sicht. In seinem Brief steht: »Sie können mich rund um die Uhr per E-Mail unter xxxx erreichen.« Sehr praktisch so eine Mailadresse für meine Eltern, die nicht mal ein Handy besitzen. Außerdem nennt er eine Mobilnummer, unter der er ›persönlich‹ aber bloß Montag, Mittwoch und Freitag zwischen 20 und 21 Uhr zu sprechen sei. Ich rufe trotzdem an. Er meldet sich und sagt, es hätte eben einfach länger gedauert. Er habe da einen sehr schwierigen Fall … »Und Sie haben ein Handy!«, sage ich. Er hätte jederzeit anrufen können und seine Verspätung ankündigen. Immerhin gibt sich Herr P. angemessen beeindruckt vom Zustand meiner Mutter.
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