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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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Ganz schlecht ist also sehr gut. Als Herr P. sich verabschiedet, fühlen wir uns, als hätten wir gerade ein wichtiges Examen bestanden.
    Morgens, mittags und abends kommt nun der Pflegedienst. Es sind freundliche, kompetente Frauen, die meine Mutter waschen und windeln, ihr die Medikamente verabreichen, nach der Sondenkost schauen. Der Unterschied zu dem, was wir in den Kliniken erlebt haben, könnte kaum größer sein. Ein Physiotherapeut wird nun außerdem zwei Mal die Woche unsere Mutter ein wenig mobilisieren. In zehn Tagen reisen Ursula und ihre Freundin aus Polen an, dann wollen wir den Pflegedienst auf zwei Besuche pro Tag reduzieren. Wir leben in einem absoluten Ausnahmezustand, aber es fühlt sich auf eine bizarre Weise großartig alltäglich an. Als könnte es so ewig weitergehen. Es ist Mittwoch. Vormittags noch habe ich mit meiner Schwester einen Großeinkauf beim italienischen Lebensmittelgroßhandel erledigt. Wir hatten Mutter gesagt, sie müsse schon ein wenig trainieren, wenn sie das nächste Mal mitkommen wolle. Nun fängt sie an, sich am Bettgalgen hochzuziehen. Wir loben sie für ihre Vertikal-Liegestütze. Mittags macht mein Vater Reibekuchen. Er fragt Mutter, ob Zwiebeln hineingehören. Sie lachen, weil er das immer fragt. Später, ich will gerade gehen, um mal wieder nach Hause zu fahren, sagt meine Schwester: »Schau mal.« Meine Mutter fixiert hochkonzentriert einen Punkt auf der linken Seite des Bettes, auf Kopfhöhe, als würde dort jemand stehen. Was sie sieht, scheint um ihr Bett zu gehen. Sie verfolgt es mit den Augen. Es oder Er oder Sie bleibt nun in der rechten Ecke stehen. Sie blickt noch eine Weile darauf. Dann scheint es weg zu sein. Ich fahre heim. Kaum zu Hause, ruft mich meine Schwester an. Weinend. Weil der Notarzt da war. Weil unsere Mutter stirbt.
    Ich hatte das Sterben eines Menschen zuvor nur einmal bei meiner Tante erlebt. Meine Mutter war damals schon einige Tage bei ihrer jüngsten Schwester gewesen, die unheilbar an Brustkrebs erkrankt war, und ich hatte sie dort in Niedersachsen besucht. Ich weiß noch, wie irritierend ich es damals fand, dass meine Tante in ihrem Schlafzimmer im Sterben lag, während wir im Wohnzimmer bei Aufschnitt und Gewürzgürkchen über Belangloses sprachen. Das Sterben hatte ich mir filmreifer vorgestellt. Ich dachte, dem Leben an sich würde einen Moment der Atem stocken, der Sterbende, wie bei den Oscars die Preisträger, einen Zettel aus dem Nachthemd nesteln und etwas ganz Tiefes sagen. Meine Tante aber wollte nicht noch ein paar große Worte loswerden. Sie wollte unbedingt auf die Toilette. Sie war schon nicht mehr ganz bei sich, aber diese eine Angst war geblieben, es nicht mehr rechtzeitig dorthin zu schaffen. Jetzt ist es ganz ähnlich. Ganz normal und unfasslich furchtbar. Eben haben wir noch Reibekuchen gegessen. Jetzt stirbt Mutter. Irgendwas sagt einem, dass das auf keinen Fall in ein und denselben Tag, ja nicht mal in ein und dasselbe Jahrhundert gehört. Es muss einen anderen Termin dafür geben. Doch die Luft wird Mutter zunehmend knapp. Sie atmet auf einmal gar nicht mehr. Dann wieder. Wir wollen sie umarmen, sie festhalten, ihre Hand nehmen. Sie entzieht sie uns und weicht mit angstgeweiteten Augen zurück. Das hier ist das Gegenteil jener Sterbeidylle, wie sie einem auch die Palliativmedizin bisweilen so tröstlich weichzeichnet, dass man am liebsten sagen würde: Ja, packen Sie mir das ein! Hier wird nicht ›sanft entschlafen‹, das hier ist ein Moment absoluter und eiskalter Einsamkeit. Wir würden unsere Mutter so gern in den Arm nehmen. Ein letztes Mal. Aber sie will es nicht und es ist ihr Tod. Sie atmet gar nicht mehr. Und schließlich nur noch dieses wirklich allerletzte Mal. Wir stehen an ihrem Bett. Wir heulen, heulen, heulen, heulen.
    Doch irgendwann stellt sich die Frage: Was machen wir jetzt?
    Es ist Mittwochnachmittag. Wir haben eine tote Mutter im Haus. Der Notarzt war jetzt oft genug da. Der Hausarzt ist nicht erreichbar. Entgegen seiner Beteuerungen, ihn jederzeit, wirklich jederzeit, anrufen zu können. Ja, auch auf dem Handy. Aber das ist ausgeschaltet. Er wäre so gern ein wirklich guter Mensch. Außer mittwochs. Da ist die Praxis geschlossen, und auch das Mitgefühl hat Ruhetag. Gibt es eine Regel, nach der man Tote sofort abgeben muss? Man weiß so verdammt wenig darüber, wie ein Leben ordentlich zu Ende gebracht wird. Wir schließen Mutter die Augen. Oder wir versuchen es. Es ist längst nicht so
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