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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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mein Vater und meine Schwester dürfen solche Entscheidungen nicht treffen, und ich, die offizielle Betreuerin meiner Mutter, war zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Weg zu mir nach Hause gewesen. Deshalb muss der Notarzt nun noch einmal kommen, damit ich ihm bestätigen kann, was mein Vater bereits gesagt hat.
    Nichts hatte darauf hingedeutet, dass meine Mutter heute sterben würde. Es schien ihr im Gegenteil sogar von Tag zu Tag ein wenig besser zu gehen. Mein Bruder war für zwei Wochen aus Finnland angereist mit drei seiner vier Kinder. Wir saßen mitten in der Woche wie früher immer sonntags an dem großen Esstisch meiner Eltern, während meine Mutter von ihrem Pflegebett aus den Stimmen lauschte. Wir redeten viel und lachten mit ihr. Die Balkontür stand auf, ein lauer Sommerwind wehte. Wir sprachen darüber, dass wir mit meiner Mutter bald im Rollstuhl in den Garten fahren würden. Es ist unser Fernziel, das ihres Mannes und ihrer Kinder. Meine Mutter dagegen zeigt wenig Interesse an Zukunftsperspektiven. Statt ins Grüne zu ihrer linken Seite zu schauen, fixiert sie nun oft einen Punkt in der rechten oberen Zimmerecke. »Was siehst du da?«, frage ich sie. »Ich weiß nicht«, sagt sie. Ich schlage vor: »Vielleicht deinen Garten?« »Ja!«, sagt sie. »Das ist schön. Ich gehe durch meinen Garten.« Und sie sagt, sie sieht ihre Schwestern, die doch schon tot sind, ihre Mutter, die zwanzig Jahre älter wurde als sie. Ihre Nichte, die bei einem Autounfall starb. Ihren Vater, den sie kaum kennengelernt hatte.
    Die jüngste Enkelin, Alicia, eine talentierte Malerin, hat ihrer Großmutter eine Katze gezeichnet. Die steht nun auf dem Nachttisch und soll auf meine Mutter aufpassen. Sie heißt Mischka, wie die Katze daheim in Finnland. An einem Sonntag kommen jetzt auch die beiden besten Freundinnen meiner Mutter vorbei. Wochenlang hatten wir sie hin- und ferngehalten. Wir hatten einfach keine Zeit. Sterben, auch das haben wir gelernt, ist ein enorm strammes Veranstaltungsprogramm. Dauernd ist was anderes, und wenn man einmal nicht beschäftigt ist, will man nur in Ruhe auf den Menschen schauen, der bald weg sein soll. Man denkt ja, es müsse möglich sein, Proviant anzulegen, an Liebe, an Da-Sein, an dem Geruch des anderen, an Umarmungen oder einem Händedruck. Wegzehrung für den Rest des Lebens ohne ihn. Man versucht sich vorzustellen, dass da bald gar nichts mehr ist. Aber es geht nicht. Wir waren auch deshalb zurückhaltend mit Besuchen, weil wir glaubten, es würde meine Mutter vielleicht grämen, wenn man sie so sieht: in Windeln liegend, halbseitig gelähmt, abgemagert, mit einer PEG -Sonde und kaum noch Haaren auf dem Kopf. Doch sie freut sich über Elli und Karin an ihrem Bett. Lächelt, als wäre das alles hier gar nicht so schlimm. Die beiden Freundinnen sind erleichtert. Das hier hätten sie sich doch viel schlimmer vorgestellt. Wie gut sie aussähe, meine Mutter. Jetzt würde es doch ganz sicher bergauf gehen. Man könne es deutlich erkennen. Am selben Tag ist auch Susanne da. Meine beste Freundin. Sie war schon in die Reha gekommen und hatte mich einmal spätabends noch in die Strahlenklinik begleitet. Da waren wir eigentlich zum Essen verabredet, aber ich hatte plötzlich Angst, dass es meiner Mutter nicht gut gehen könnte. Tatsächlich war sie halb aus dem Bett gerutscht, der Telefonhörer war ihr heruntergefallen. Der Fernseher lief. Die Schwester hatte mal wieder keine Zeit. Irgendjemand hatte offenbar schlimme Verdauungsprobleme. Es stank erbärmlich auf dem Gang. Jetzt ist alles besser. Ein lauer Sommerwind weht durch die offene Terrassentür. Susanne macht meiner Mutter Komplimente. Die geniert sich ein wenig, wie immer, wenn sie im Mittelpunkt steht. Aber man merkt, wie sie sich freut. Sie sagt, wir hätten es gut. »So eine schöne Freundschaft!«
    Auf einen Besucher warten wir besonders lange: den Gutachter vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen. Der MDK prüft, ob der Zustand meiner Mutter die Voraussetzung der Pflegebedürftigkeit erfüllt, wie groß die Einschränkungen der »Alltagskompetenz« sind, wie hoch also der Betreuungsaufwand ist und in welche Pflegestufe sie also gehört. Es ist schon kurios: Obwohl meine Mutter in den letzten Wochen mehr Fachärzte gesehen hat als vermutlich in ihrem ganzen Leben zuvor, war offenbar keiner qualifiziert genug, eine Pflegebedürftigkeit zu taxieren. Wieder so ein Misstrauensvotum. Eines von unendlich vielen. Andauernd ist man ja eigentlich
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