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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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ganz legal ist, was du planst). Was würdest du tun?« »Ich würde sie genau das erleben lassen, was wir erlebt haben. Und natürlich dürften sie nichts vergessen.« »Muss man das alles nicht auch einfach mal vergeben können?« »Auf keinen Fall!«

Nachwort
    Ja, es gibt ein Leben nach dem Tod. Der Medizinische Dienst der Krankenkassen informiert uns, meine Mutter habe nun die Pflegestufe III erhalten. Das Gericht schickt die Aufforderung, die Vermögenswerte meiner Mutter offenzulegen. Seitenlang wird nach Grundstücken, Ersparnissen, sogar nach Schmuck gefragt. Die Unkosten, die dem Gericht für die Betreuungsvollmacht entstanden sind, sollen anteilig am Vermögen meiner Mutter beglichen werden. Außerdem soll ich den Betreuer-Ausweis zurückgeben. Ich bin immer noch so fassungslos über das, was wir auf der Palliativstation erlebt haben, dass ich mich entschließe, der Ärztin, die meine Mutter dorthin überwiesen hatte, einen – natürlich freundlichen – Brief zu schreiben. Sie sollte wissen, wie es dort war. Vielleicht hört sie beim nächsten Patienten besser zu, ehe sie einfach darüber entscheidet, was das Beste für ihn sein wird. Möglicherweise sucht man sich zukünftig für seine todkranken Patienten eine andere Klinik, die ihr Plansoll besser erfüllt. Hey, auch die Medizin soll doch ein freier Markt sein – und da gewinnt den Wettbewerb doch angeblich immer der Bessere. Außerdem ist es ja nur fair, ihr diese Möglichkeit zu einer Stellungnahme zu geben. Genutzt hat sie sie bis heute nicht.
    Wenn wir von unseren Erfahrungen berichten, hören wir häufig die Frage, ob wir nicht vielleicht einfach nur Pech hatten oder möglicherweise überzogene Erwartungen. Diese Frage ist Teil des Problems: Dass man als Angehöriger stets unter dem Generalverdacht steht, abstruse Hoffnungen zu hegen, zu betroffen zu sein, um die Ereignisse objektiv betrachten zu können. Umgekehrt gilt aber auch: Fehlt es an eigenem Erleben, darf man auch nicht mitreden. Man kennt die Zustände ja allenfalls nur aus der Fernsicht, aus zweiter Hand. So oder so – immer darf man sich kein Urteil erlauben. Auf diese Weise aber entsteht ein System, in dem die Verursacher der Zustände zugleich auch exklusiv die Deutungshoheit dieser Zustände für sich in Anspruch nehmen. Ich habe während der Krankheit meiner Mutter Tagebuch geführt, um meine Erfahrungen festzuhalten. Nach dem Tod meiner Mutter beginne ich, mich intensiver mit unserem Gesundheitssystem zu beschäftigen. Ich hatte ja die Nähe, nun wollte ich den Abstand. Aber auch aus der Distanz ändert sich nichts an dem erschütternden Panorama. Was meiner Mutter und uns widerfahren ist, hat Methode. Die liegt zum einen in der Gnadenlosigkeit des puren Kosten-Nutzen-Denkens, zum anderen in dem Versuch, die Folgen dieses Denkens als ›Schicksal‹ zu etikettieren und die Konsequenzen somit höheren Mächten in die Schuhe zu schieben. Wenn es aber immer mehr nur noch um Gewinn, Profit, um Kostenersparnis und immer weniger um die Menschen geht, sind Gleichgültigkeit, Ignoranz und schließlich Brutalität keine Zufallstreffer.
    Dennoch: Ich kann die Ungläubigkeit ob der von uns behaupteten Fallhöhe zwischen Sein und Schein gut verstehen. Je mehr Zeit vergeht, umso mehr spüre ich in mir das beeindruckend starke Bedürfnis, das Erlebte auch in einer Überdosis Weichzeichner zu versenken. Zu denken, was alle anderen auch denken: So schlimm wird es schon nicht kommen. Ich möchte so schrecklich gern darauf vertrauen, dass schon alles gut wird, wenn es ernst wird. Am liebsten würde ich mir selbst nicht glauben. Dann höre ich, wie die Mutter eines schwer an Diabetes erkrankten Jungen erzählt, dass die für ihren Sohn so dringend notwendige Kontrolluntersuchung beim Augenarzt, für die sie als Kassenpatientin beinahe acht Monate im Voraus einen Termin verabredet hatte, immer wieder verschoben wird. Und es gibt zunehmend besorgniserregende Berichte auch von der anderen Seite: Im Mai 2012 erzählen fünf Klinikärztinnen und -ärzte – anonym – im Zeitmagazin , zu welchen Verheerungen die Einführung der Fallpauschalen, der zunehmende Wettbewerb und das nackte Effizienzdenken in ihrem Arbeitsalltag führen. Wie Patienten nur noch wie ein Stück Fleisch betrachtet werden, das man im Supermarkt über den Scanner zieht. Ein Arzt berichtet, wie eine Frau mit Schlaganfall in seine Klinik eingeliefert wird. Ein Medikament könnte die Durchblutung wiederherstellen, also den
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