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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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einfach, wie es im Fernsehen immer aussieht. Ihr Mund steht weit offen. Meine Schwester holt ein Handtuch, rollt es zusammen, schiebt es unserer Mutter unter das Kinn. Das sieht besser aus. Sie wirkt fremd und gar nicht friedlich, eher als wäre das Sterben noch jetzt, wo es vollbracht ist, eine große Gemeinheit. Wir rufen meinen Bruder in Finnland an, dann unsere Ehemänner und schließlich den Pflegedienst. Wir wollen wissen, ob man einen Toten so lange bei sich behalten darf. Man darf.
    Viel später am Abend sitzen meine Schwester, mein Vater und ich am Wohnzimmertisch, Mutter liegt in ihrem Pflegebett bei uns im Zimmer. Wir haben eine Flasche Sekt geöffnet. Wenn es stimmt, dass die Seele eines Toten noch eine Weile in dem Raum bleibt, in dem er gestorben ist, dann wollen wir jetzt mit ihr trinken. »Wird einen seltsamen Eindruck machen, wenn jetzt jemand reinkommt«, sagt meine Schwester. Dann stoßen wir an, auf Irmtraud Kleis. Auf das große Glück, das sie für uns war. Auf all die Dinge, die wir zusammen erlebt haben, auf unsere gemeinsamen Reisen, auf Bastelnachmittage, ausgepustete Eier, darauf, dass wir manchmal so lachten, bis wir heulen mussten. Einfach so, ohne einen Grund. Und wie sie sofort immer alles stehen und liegen ließ, um anderen einen Herzenswunsch zu erfüllen. Wie sie sagte »Vergiss mal deine Rede nicht!«, wenn sie einem – eigentlich dauernd – ins Wort fiel, weil sie dringend eine Geschichte loswerden musste. Wir erinnern uns, wie sie sagte, sie hätte gern mal einen Abend mit Henry Kissinger verbracht, und gefragt, was nach dem Tod ihrer Meinung passiert, antwortete: »Ich treffe meine ganze Sippe. Der halbe Himmel muss ja voll davon sein.« Ich denke an das Buch von Astrid Lindgren, das wir ihr im Krankenhaus vorgelesen hatten, an den einen Satz daraus: »Meine kleine Inniggeliebte, hier sitzen wir nun, du und ich, und haben’s schön.« So war es oft mit ihr.
    Irgendwann ist man total erschöpft und fühlt gar nichts mehr. Man geht ins Bett. Man steht auf und denkt kurz, dass das alles bloß ein Traum gewesen ist. Man geht jetzt hinunter, in die Küche. Meine Mutter wird fragen, ob man nicht gern ein paar Spiegeleier hätte. Aber da liegt sie ja doch tot im Bett. Der Pflegedienst kommt, wir hatten ihn darum gebeten. Wir wollen Mutter noch einmal waschen. Es ist – auf eine seltsame Art – tröstlich, sie mit einem Waschlappen abzureiben, ihr ein frisches Nachthemd anzuziehen, die Haare zu kämmen. Wir suchen für sie Kleidung heraus, die wir dem Bestatter mitgeben wollen. Ihre Lieblingsbluse, für den Sarg. Man wundert sich, wie gefasst man sein kann. Selbst als der Hausarzt endlich da ist, weil einer ja den Totenschein ausstellen muss. Und sogar, als er sagt: Übrigens, unsere Mutter wäre ja nun keine MRSA -Trägerin mehr. Er wusste das schon gestern, bevor der Notarzt kam und für die Untersuchung unserer um jeden Atemzug ringenden Mutter eine Maske aufsetzen musste, wegen der Hygienevorschriften. Der Arzt hat es nicht für notwendig befunden, uns das wenigstens telefonisch durchzugeben. War ja Mittwoch. Und obwohl man ihm nun aus einem weiteren ziemlich guten Grund seine Betroffenheit am liebsten … Sie wissen schon wohin schieben würde, bleibt man ganz zivilisiert. Dies hier ist das Sterbezimmer meiner Mutter und absolut nicht der richtige Ort oder der richtige Zeitpunkt, diesem Arzt den Unterschied zwischen Anteilnahme und Selbstgefälligkeit zu erklären. Gerade wunderte man sich, woher all dieser Stoizismus plötzlich kommt, da ist es auch schon vorbei damit. Die Bestatter sind da, sie heben meine Mutter aus ihrem Bett und tragen sie aus dem Haus. Gäbe es für die letzten Wochen eine Top-Ten-Liste der absoluten Tiefpunkte, würde dieser Moment sicher unter den ersten vier landen: Wie diese leblose Mutter nun in einen Sarg gehievt wird.
    Jeder hat seine eigene Liste. Mein Vater, ich, meine Schwester. »Was war das Schlimmste für dich?«, frage ich sie viel später. »Abgesehen von der Diagnose? Dass uns niemand helfen wollte. Dass man ganz alleine ist, gerade wenn es darauf ankommt und einem ausgerechnet von jenen jede Hilfe verweigert wird, von denen man doch dachte, dass sie genau dafür da sind.« »Angenommen, du könntest einen von ihnen als Geisel nehmen und hättest einen Tag Zeit, zu machen, was du willst, oder einmal in aller Ruhe alles zu sagen, was du möchtest (danach würden sie natürlich einen kompletten Gedächtnisverlust erleiden, nur falls es nicht
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