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Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Titel: Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
Autoren: Kai Meyer
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berührte sie mit der gebogenen Metallspitze die runzelige Haut des Sterns. Erst ganz leicht, dann, als er nicht reagierte, sehr viel fester. Die Spitze glitt in das Fleisch wie in Schlagsahne, ohne jeden Widerstand.
    Der Stern stieß einen markerschütternden Schrei aus. Einen Schrei, wie Kyra ihn noch nie in ihrem Leben gehört hatte, nicht einmal damals im Kerker der Gargoyles, in den Katakomben des wahnsinnigen Bildhauers Damiano – und dort waren wirklich ziemlich üble Schreie zu hören gewesen.
    Ein zweites Kreischen ertönte, draußen im Treppenhaus, so als teile der Schattenstern am Geländer den Schmerz seines verletzten Artgenossen. Dann aber, ganz unvermittelt, verstummten beide, und Kyra erkannte, dass das Wesen auf dem Gesicht ihrer Tante den vorderen Teil der Schere absorbiert hatte. Die Spitze war einfach nicht mehr da, so als hätte sie sich in Luft aufgelöst.
    Kyra begriff, was geschehen war. Der Körper des Sterns hatte das Metall in Schattenfleisch umgewandelt, hatte es einfach zu einem Teil von sich selbst gemacht.
    Sie war plötzlich sehr froh, dass sie nicht ihren Finger in das Wesen geschoben hatte.
    Auch die Wunde der Kreatur war verschwunden.
    Kyra warf die nutzlos gewordene Schere zu Boden. Und dann tat sie das, was jeder andere in ihrem Alter und an ihrer Stelle getan hätte: Sie ließ sich auf die Bettkante fallen, schlug die Hände vors Gesicht und weinte.
    Ein, zwei Minuten vergingen, in denen sie haltlos schluchzte. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an Zauberbücher, an ihre Hexenkräfte und an das Erbe ihrer Mutter. Sie war jetzt einfach nur ein ganz normales Mädchen, das nicht mehr weiterwusste.
    Plötzlich bemerkte sie einen eigenartigen Lichtschein, der vom Bett ihrer Tante erstrahlte. Als sie aufschaute, entdeckte sie durch den Tränenschleier etwas Sonderbares: Aus der Oberseite des Sterns entsprang jetzt ein Geflecht hauchfeiner Lichtfäden, nicht dicker als Spinnweben. Fünf oder sechs dieser Fäden faserten aus dem Fleisch des Sterns, verliefen in unregelmäßiger Bahn durchs Fenster in den dunklen Nebel hinaus. So dünn die Fäden auch waren, das Licht hatte eine eigene, fast unirdische Kraft. Es sah aus, als würde vom Stern aus eine Verbindung aus purer Energie geschaffen.
    Lebensenergie, durchfuhr es Kyra. Der Schattenstern zapfte Tante Kassandra Lebenskraft ab und schickte sie irgendwo anders hin.
    Hinaus in den Nebel.
    Zur Schattenshow.

Mondnacht
    Drei Schattenmänner stießen Lisa und Chris den Bahndamm hinauf. Niemand achtete auf ihre Proteste. Chris ergriff Lisas Hand und ließ sie auch dann nicht los, als sie direkt vor Doktor Karfunkel zum Stehen kamen.
    Der Mann mit dem schwarzen Zylinder blickte von oben auf sie herab. Von weitem mochte er geheimnisvoll und faszinierend erscheinen – von nahem aber wirkte er nur böse, böse, böse.
    »Was führen Sie im Schild?«, fragte Chris mit belegter Stimme.
    »Der Herrscher des Mondes hat mir einen Besuch abgestattet«, entgegnete Karfunkel so leise, dass niemand außer Lisa und Chris die Worte hören konnte. »Er hat mir erzählt, wie ihr ihn von hier vertrieben habt, zurück in sein Gefängnis, dort droben in der eiskalten Einsamkeit des Firmaments. Aber ein Teil von ihm ist damals in mich gefahren, hat mich geläutert und etwas Neues aus mir geformt. Ich bin jetzt wie er. Ich bin er! Und ich bin gekommen, um eure Welt der meinen gleichzumachen.«
    Chris sah aus, als wollte er etwas erwidern, aber da drängten die Schattenmänner sie schon weiter zum vorderen der drei Waggons. In ihrem Rücken jubelte und grölte die Menge.
    Lisa blickte über die Schulter zurück, wollte erst um Hilfe rufen, doch dann sah sie, dass es zu spät war. Schon stiegen hinter ihnen die nächsten Besucher die Schräge empor, lachend und ohne eine Vorstellung davon, was sie im Inneren der Schattenshow erwarten mochte.
    Nicht dass Lisa oder Chris mehr darüber wussten. Aber sie hatten zumindest die Gewissheit, dass ihnen etwas Furchtbares, Bösartiges, vielleicht sogar Tödliches bevorstand.

Doktor Karfunkel begrüßte die Nachkommenden mit einschmeichelnder Stimme, hielt sie aber noch zurück, damit sie Lisa und Chris vorausgehen ließen.
    In der Vorderseite des ersten Waggons klaffte jetzt eine Öffnung. Lisa war sicher, dass sie bei ihrem Besuch heute Nachmittag noch nicht dort gewesen war. Ihre Ränder schienen kaum merklich zu vibrieren; man sah es nur, wenn man genau darauf achtete. Die übrigen Besucher würden es vermutlich gar
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