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Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Titel: Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
Autoren: Kai Meyer
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das sich über den Boden ergoss wie eine lautlose Flutwelle, das Doppelbett auf der einen Seite und die Schranktür auf der anderen Seite anstrahlte. Ein Gitterwerk aus Lichtbalken legte sich über Nils’ zusammengekauerten Körper, als die Lamellen den Lichtschein in Scheiben schnitten.
    Er hielt die Luft an und wandte behutsam den Kopf zur Seite. Deutlich konnte er auf der Rückwand des Schranks seinen Schatten erkennen, verschmolzen mit denen der Lamellen.
    Den Schattenstern sah er nur undeutlich durch die Ritzen. Deutlich genug allerdings, um zu bemerken, dass er sich über den Boden vorwärts schob, genau auf den Schrank und sein Opfer zu.
    Bitte nicht!, dachte Nils.
    Der Stern ließ sich Zeit. Er übereilte nichts. Er mochte aussehen wie eine zu groß geratene Amöbe, pures Muskelfleisch ohne Verstand, doch irgendwo in seinem schwabbeligen Inneren musste es sehr wohl eine Art Gehirn geben oder einen Knotenpunkt, an dem all seine Instinkte zusammenliefen und so etwas wie Gedanken bildeten. Gedanken, die ihm die Gewissheit gaben, dass Nils in der Falle saß: Kein Grund zur Hast.
    Nils umklammerte den zerbrochenen Kleiderbügel fester. Vielleicht, wenn er die Spitze ganz tief in das Schattenfleisch seines Gegners trieb, genau in das pulsierende Zentrum zwischen den Sternarmen, dann, ja, dann hatte er vielleicht eine Chance. Keine Kreatur dieser Welt konnte so etwas überleben.
    Die Frage war nur: War es überhaupt Leben, das den Stern erfüllte, das ihn kriechen, springen und sabbern ließ? Oder war da etwas anderes in seinen schleimigen Eingeweiden, etwas ganz und gar Böses?
    Noch einen Meter, dann würde der Stern die Schiebetür des Wandschranks erreichen. Nils’ Faust schloss sich so kräftig um den Bügel, dass die Ränder scharf in seine Hand einschnitten. Aber der Schmerz, genauso wie das Fieber und das Jucken überall an seinem Körper, war längst zur Nebensache geworden.
    Es gab Wichtigeres.
    Überleben, zum Beispiel.
    Der Stern hob zwei seiner Spitzen und tastete damit nach den unteren Lamellen der Schranktür. Die Fangarme zitterten wie die Fühler von Insekten. Behutsam, fast zärtlich strichen sie über die dünnen Holzstreben.
    Auf und ab.
    Auf … und ab.
    Nils musste einfach Luft holen, es ging nicht anders.
    In seinen eigenen Ohren klang das Geräusch überlaut und verzerrt. Er wusste nicht, ob der Schattenstern ihn hören konnte. Kyra hatte nur gesagt, dass das Vieh seinen Schatten wittern konnte. Möglich, dass es gar keinen Grund gab, den Atem anzuhalten.
    Möglich auch, dass es keine Rolle spielte, ob er sich versteckte oder nicht. Nicht hören. Nicht sehen. Nur wittern.
    Er war der Kreatur ausgeliefert.
    Im Korridor erlosch abrupt das Licht. Und damit auch im Zimmer. Finsternis kroch durch die Lamellen, erfüllte den Wandschrank ebenso wie den ganzen Raum.
    Natürlich, durchfuhr es Nils. Die Bewegungsmelder der Lichtanlage waren an eine Zeitschaltuhr angeschlossen. Registrierten die Sensoren im Korridor länger als zwei Minuten keine Bewegung, gingen die Lampen wieder aus.
    Nils konnte sein Glück kaum fassen. Hatte er die moderne Technik eben noch verflucht, so hätte er sie nun am liebsten bejubelt. Die Zeitschaltuhr hatte ihn gerettet. Vorerst.
    Er konnte die Hand nicht vor den Augen sehen, auch wenn er noch immer das Schlürfen und Schlabbern des Schattensterns vernahm, nur eine Armlänge von ihm entfernt, draußen vor der Schranktür. Nils hätte nach ihm greifen können. Aber natürlich tat er nichts dergleichen.
    In der vollkommenen Schwärze warf er keinen Schatten. Die Kreatur konnte ihn jetzt nicht mehr wittern – vorausgesetzt, Kyras Vermutung war richtig. Doch angesichts der Tatsache, dass die Schiebetür noch immer verschlossen und unversehrt war, würde sie wohl Recht behalten.
    Jetzt musste er das Mistvieh nur noch loswerden. Das würde nicht einfach werden.
    Doch der Schattenstern verlor plötzlich das Interesse an seinem Opfer. Vielleicht hatte Nils die Intelligenz der Kreatur überschätzt. Augenscheinlich vergaß sie ihn im selben Moment, da seine Witterung erlosch: kein Schatten, kein Nils. Kein Grund mehr, länger vor diesem Schrank herumzuglibbern.
    Nils konnte hören, wie sich das Wesen entfernte. Fort vom Schrank, quer durch das Zimmer, wieder in Richtung Tür.
    Nein! Nicht zur Tür!
    Einen Augenblick lang war Nils überzeugt, dass das Wesen die Bewegungsmelder auf dem Gang erneut aktivieren würde. Das Licht würde angehen, Nils’ Schatten würde zurückkehren
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