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Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Titel: Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
Autoren: Kai Meyer
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nicht wahrnehmen.
    Die drei Schattenmänner führten sie bis an den Rand der Öffnung. Sie war irgendwie formlos, ein wenig wie ein riesenhafter Bauchnabel, fand Lisa. Sie dachte an die Märchen, in denen unglückliche Helden in den Bäuchen gigantischer Ungetüme verschwanden, und ihr wurde schrecklich übel dabei.
    »Was ist das denn?«, flüsterte Chris.
    Lisa blickte sich um. Durch den Nebel fraß sich ein gleißendes Band aus purer Helligkeit. Es spannte sich quer durch die Blase, die noch immer die Kieselwiese und ein Stück des Bahndamms umgab, und schoss über ihre Köpfe hinweg ins Innere des Waggons. Es schien aus einer Vielzahl feiner Lichtfäden zu bestehen, die gebündelt aus der Richtung der Stadt kamen.
    Chris wurde so bleich, als hätte man ihn über und über mit Kreidestaub eingepudert. Lisa befürchtete, dass sie selbst nicht viel gesünder aussah.
    Irgendetwas war in der Stadt vorgefallen, etwas, das in einer Verbindung zu den schwarzen Ballons und dem flirrenden Lichtstrahl stand. Sie dachten jetzt beide an ihre Eltern, an Kyra und Nils, an Tante Kassandra und all die anderen Menschen, die ihnen etwas bedeuteten, und die Angst umklammerte ihre Herzen wie Fäuste aus Stahl.
    Chris hielt noch immer Lisas Hand, und sie fühlte, wie er sie leicht drückte, wohl um ihr Mut zu machen. Aber so recht wollte das nicht gelingen. Erst als er sich unverhofft zu ihr vorbeugte und ihr einen Kuss gab – auf die Lippen, liebe Güte, auf die Lippen! –, zog sich die Kälte aus Lisas Körper zurück, und sie lief trotz der Gefahr rot an. Verzweifelt überlegte sie, wie sie reagieren, was sie sagen sollte, ohne dass es dumm und unbeholfen wirkte. Doch dann ließen ihr die drei Schattenmänner keine Zeit.
    Lisa und Chris bekamen einen heftigen Stoß in den Rücken und taumelten vorwärts in die Dunkelheit.
    Schwärze umfing sie wie ein Schwamm, den man in eisiges Wasser getaucht hatte.
    Die Kälte, die sie umgab, hatte nichts mit niedriger Temperatur zu tun. Es war vielmehr, als kröche der Tod selbst durch ihre Adern – ein kalter Hauch auf dem Weg zu ihren Herzen.
    »Lisa!«
    Sie fuhr herum. Chris war noch immer neben ihr, und jetzt spürte sie auch wieder seine Hand in der ihren.
    »Der Eingang«, sagte er leise. »Er ist nicht mehr da.«
    Die unförmige Öffnung, durch die sie den Waggon betreten hatten, war spurlos verschwunden, an ihrer Stelle brodelte nur noch tiefschwarze Finsternis, die gleiche Finsternis, die sie auch auf allen anderen Seiten umgab. Nur das gleißende Lichtbündel spannte sich noch immer über ihren Köpfen, entsprang irgendwo hinter ihnen, scheinbar weit, weit entfernt, und setzte sich in ebensolcher Tiefe fort.
    »Deine Stimme«, sagte Lisa verwirrt. »Sie hallt so komisch.«
    »Deine auch.«
    »Das hier ist nicht mehr das Innere des Waggons, oder?« Es war keine Frage, auf die Chris eine Antwort erwartete. Sie wussten beide, dass er Recht hatte. Wo auch immer sie sich befanden – es war kein Eisenbahnwaggon. Dieser Ort war nicht einfach nur groß, er war unendlich. So unendlich wie das Weltall.
    Und Lisa erkannte noch etwas, je mehr sich ihre Augen an diesen sonderbaren Ort gewöhnten: Es gab tatsächlich Licht in der Finsternis. Sterne. Es war, als ständen sie auf einer unsichtbaren Plattform inmitten der endlosen Weite des Alls.
    Schwimmer zwischen den Sternen hatte sich Karfunkel genannt. Hatte er damit auf diesen Ort angespielt?
    »Das kann nicht wirklich der Weltraum sein.«
    Chris versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. »Sonst wären wir längst tot. Außerdem würden wir dann nicht einfach dastehen, sondern schweben – selbst wenn die Kälte, der fehlende Sauerstoff und der Unterdruck kein Problem für uns wären.«
    Lisa drückte sich enger an ihn. Chris legte einen Arm um sie. »Egal, was das hier ist«, sagte Lisa, »ich will so schnell wie möglich weg.«
    »Das Ganze muss irgendwas Magisches sein«, vermutete Chris. Irgendwas Magisches war in letzter Zeit eine ziemlich beliebte Erklärung für alles Mögliche geworden. Wie sonst sollte man eine solche Leere erklären, wo sie doch gerade noch zwischen den Brombeersträuchern auf dem Bahndamm gestanden hatten? Irgendeine Erklärung schien im Augenblick zumindest besser als überhaupt keine.
    »Karfunkel muss das alles geschaffen haben«, sagte Chris. »Oder der, zu dem er inzwischen geworden ist. Immerhin war Karfunkel ja der Leiter einer Sternwarte. Vielleicht ist deshalb hier alles voller Sterne.«
    »Ganz toll«,
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