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Alle Wege führen nach Rom

Alle Wege führen nach Rom

Titel: Alle Wege führen nach Rom
Autoren: Adalbert Seipolt
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I Vom Vergnügen des Kennenlernens oder
warum Frau Schulrätin zur Notbremse griff
     
     
    »Das geht ja schlimmer zu als auf dem Schulhof«,
murmelte Schwester Annaberta, mit bürgerlichem Namen Vogelwieser, vor sich hin,
als sie an der Hand der Ehrwürdigen Mutter Potenzia sich durch das Gewühl am
Münchener Hauptbahnhof durchzukämpfen bemühte. Allein hätte sie, ein altes,
rundliches und obendrein noch kurzsichtiges Gotteskind, es kaum vermocht, den
Bahnsteig ausfindig zu machen, auf dem der Pilgerzug nach Rom sie erwartete.
Doch Ehrwürdige Mutter Potenzia zerteilte die Masse der hin- und herflutenden
Menschen wie der Bug eines Schlachtschiffes die Wogen des Ozeans und zog die
kleine Annaberta gleich einer Schaluppe hinter sich her.
    Am Bahnsteig 11 erreichte der Trubel den
Siedepunkt. Geistliche Herren flatterten mit wehenden Rockschößen nervös umher,
ergraute Ehepaare gaben sich verstohlen den Abschiedskuß, Krethi und Plethi
radebrechten Hochdeutsch, besorgte Mütter überhäuften ihre Töchter mit
Ratschlägen und Ermahnungen. Ehrwürden Mutter schob, was ihr in die Quere kam,
wie Kegel zur Seite, steuerte zielbewußt auf den nächsten Schaffner zu und
fragte ihn, wo noch ein Platz für Schwester Annaberta wäre. Im letzten Wagen,
war die Antwort. Die beiden Ordensfrauen eilten zum letzten Wagen, denn schon
forderte der Lautsprecher die Reisenden auf, in den Pilgerzug einzusteigen und
die Türen zu schließen.
    Ehrwürden Mutter ließ sich nicht aus der Ruhe
bringen. »Keine Aufregung, liebe Annaberta! Eine Pilgerfahrt ist keine Reise
zum Oktoberfest. Man muß sie mit Würde und innerer Sammlung beginnen. Sehen
Sie, dort ist noch ein freier Platz! Nun, setzen Sie sich einstweilen hin. Ich
komme gleich wieder. Ich gebe nur noch der Reiseleitung Bescheid, daß Schwester
Annaberta Vogelwieser pünktlich eingetroffen ist.« Sprach’s, und schon war ihre
Haube im Menschengewühl verschwunden. Noch war Annaberta mit dem Verstauen
ihrer Köfferlein und Taschen nicht fertig, als Ehrwürden Mutter schon wieder an
der Tür erschien. »Alles in Ordnung«, sagte sie. »Der Monsignore wird bald
selber die einzelnen Abteile besuchen und sich um die Pilger kümmern. Ich habe
Sie seiner besonderen Obhut empfohlen. Es wird Ihnen also an nichts fehlen. Und
nun fahren Sie mit Gott! Es ist zwar ein bißchen ungewöhnlich, daß eine
Ordensschwester allein eine so weite Reise unternimmt, doch Sie haben sich das
wahrhaftig verdient! Und denken Sie an uns, wenn Sie die heiligen Stätten
besuchen! Und schreiben Sie ein Ansichtskärtchen, wo es Ihnen besonders
gefällt! Sie wissen ja, wie sehr sich alle darüber freuen! Und machen Sie ein
paar tüchtige, verläßliche Reisegefährten ausfindig, damit Ihnen kein Unglück
widerfährt! Sie wissen doch: die Kinder dieser Welt sind klüger als die Kinder
des Lichts! Und nun Gott befohlen, Schwester Annaberta.«
    Die Tür fiel ins Schloß. Der Zug setzte sich
keuchend in Bewegung. Schwester Annaberta drückte der Ehrwürdigen Mutter noch
einmal stumm durchs geöffnete Fenster die Hand und wußte nicht, ob sie weinen
oder lachen sollte. Drum entschied sie sich schließlich für beides.
    Die Reiseleitung des Pilgerzuges hatte sich im
mittleren Wagen einquartiert. Das offizielle Kommando führte Monsignore
Schwiefele, ein stämmiger, untersetzter Herr mit auffallend großen Füßen und
einem Kopf, den er vom Riesen Goliath geborgt zu haben schien. Seine Augen
funkelten wie der Edelstein in seinem Prälatenring, und seine Haare, schon
ergraut, standen recht widerborstig zu Berge, so daß man nur schwer den
folgsamen Sohn der Mutter Kirche in ihm vermutete, der er jedoch unzweifelhaft
war. Er fuhr nun schon zum hundertdreiundzwanzigsten Male über den Brenner und
kannte die Strecke nach Rom ebenso auswendig wie die Psalmen des Breviers.
     
    Was ihn als Pilgerführer unentbehrlich machte, war
sein Talent, für jeden Stand, jede Steuerklasse und jedes Temperament den
richtigen Ton zu treffen und auf diese Weise im Handumdrehen ein väterliches,
brüderliches, söhnliches Verhältnis, wie es sich gerade schickte, zu den
einzelnen Pilgerkindern zu gewinnen. Außer natürlich zu solchen eigensinnigen
Leuten wie dem forschen Stadtkaplan aus dem Rheinland, der mit seiner
Pfarrjugend beiderlei Geschlechts eine nicht zu unterschätzende Minorität der
Pilgerschar repräsentierte. Dieser hochwürdige Herr namens Schlüter erklärte
dem Monsignore unverblümt, er werde dafür sorgen, daß eine
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