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Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Titel: Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
Autoren: Kai Meyer
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ersten Moment für altes Motorenöl hielt, pechschwarz und zähflüssig.
    Die Oberfläche bestand aus Gesichtern.
    Aus den Gesichtern hunderter, vielleicht tausender Menschen. Ein Chaos aus Schädeln, die auf- und wieder untertauchten, so als seien sie in diesem schwarzen, öligen Sumpf gefangen und kämpften darum, an der Oberfläche zu bleiben. Schmerzverzerrte Grimassen. Fratzen voller Furcht und Abscheu. Manche mit zugekniffenen, andere mit weit aufgerissenen Augen. Viele der Münder standen offen, doch kein Schrei drang hervor, was den Anblick noch unheimlicher machte.
    Ganz gleich, wohin Lisa blickte: Jeder Zentimeter des schwarzen Sees war mit diesen entsetzlichen Gesichtern bedeckt, während die aufgewühlte Brandung des Fratzenmeeres dickflüssig gegen das Kratergestein schwappte.

Chris brachte mühsam die ersten Worte hervor. »Ich glaube, ich weiß, was das ist.«
    Auch Lisa hatte einige der entstellten Grimassen erkannt. »Die Bewohner Giebelsteins«, stieß sie dumpf hervor. Ihr waren so viele der Gesichter vertraut, auch wenn sie noch keines davon in solcher Panik gesehen hatte. Da waren der Postbote und die Zeitungsfrau, der Schornsteinfeger und ein paar Verkäufer aus den Geschäften an der Hauptstraße. Sogar zwei ihrer Lehrer erkannte sie wieder, außerdem ein paar Jungs und Mädchen aus ihrer Klasse. Zum Glück konnte sie nirgends ihre Eltern entdecken, auch wenn sie insgeheim keinen Zweifel hatte, dass auch sie sich in diesem grauenvollen Hexenkessel befanden.
    »Es sind nicht sie selbst«, sagte Chris beklommen. »Nur ihre Abbilder.«
    »Bist du sicher?«
    Er nickte. »Es sieht aus, als würden sie untergehen. Aber in Wirklichkeit zerlaufen sie, formen sich neu und zerfließen wieder. Wenn du genau hinschaust, kannst du es erkennen.«
    Lisa konzentrierte sich auf eines der Gesichter, ganz nah am Ufer. Chris hatte Recht. Der Kopf tauchte mit aufgerissenen Kiefern und angstvollen Augen auf und floss dann wieder auseinander, um nach ein paar Sekunden von neuem zu entstehen.
    »All die Leute sind nicht wirklich hier«, sagte Chris. »Es muss mit diesem Lichtfluss zu tun haben. Wahrscheinlich stellt er die Verbindung zu den Giebelsteinern her.« Während er sprach, folgte sein Blick dem Lichtbündel, das irgendwo im Zentrum des Kraters in den schwarzen Fluten verschwand.
    »Wo Licht ist, muss es eine Energiequelle geben«, setzte Lisa seine Überlegungen fort. »Was, wenn es nun die Lebensenergie der Menschen ist, die den See speist? Wie eine übernatürliche Stromleitung. Deshalb nimmt die Oberfläche die Form all jener an, deren Kraft sie aufsaugt.«
    Sie stockte. »Aber wozu das Ganze?«
    Chris dachte nach. »Vielleicht ist die schwarze Brühe selbst ein Lebewesen? Mondschatten, der irgendwie ein Eigenleben gewonnen hat?«
    »Der Körper des Dornenmannes. Der Mann im Mond!« Lisa hätte Chris nur zu gerne widersprochen, aber etwas sagte ihr, dass sie mit ihren Vermutungen ganz richtig lagen.
    Als wollte auch der Krater selbst die Worte bestätigen, wölbte sich mit einem Mal seine Mitte empor, so als richtete sich jemand unter einer weiten schwarzen Decke auf. Ein riesenhafter Umriss zeichnete sich ab, eine menschliche Gestalt, viele Stockwerke hoch. Noch war sie nur zu erahnen, aber schon jetzt war klar, was das bedeutete: Die Energie der Giebelsteiner diente dazu, den finsteren Herrscher des Mondes zu neuem Leben zu erwecken. Nicht als vager Schemen, wie damals, als er als Dornenmann erschienen war; auch nicht, indem er Doktor Karfunkel für seine Zwecke missbrauchte; nein, der Mann im Mond wollte eine eigene, gewaltige, monströse Gestalt.
    Der Umriss, den man in klaren Nächten auf dem Vollmond erkennen konnte, jener Mann im Mond, von dem schon uralte Märchen und Legenden erzählten, war zu schwarzem Schattenfleisch geronnen, das sich in diesem Krater gesammelt hatte. Aus ihm würde schon bald eine neue, viel gefährlichere Kreatur entstehen – ein schwarzer Riese, der in den zerfurchten Staubwüsten des Mondes umherstreifte. In manchen Nächten würde man ihn als groteske Silhouette sehen können, die wie ein Insekt über die weiße Kugel am Himmel kroch, jederzeit bereit, den Sprung zur Erde zu wagen und dort Tod und Verwüstung zu säen.
    Lisa konnte all das vor sich sehen, teils als verschwommene Vision, teils als Anblick von solcher Klarheit, dass er ihr so real wie ein Fernsehbild erschien.
    Eine kilometerhohe schwarze Gestalt, deren Schatten schon von fern über ganze Städte fiel,
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