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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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Catherine
    Tot, und keiner hat es mir gesagt. Ich ging in sein Büro, und seine Assistentin hat geheult.
    »Was ist denn, Felicia?«
    »Haben Sie es noch nicht gehört? Mr Tindall ist tot.«
    Was ich hörte war: »Mr Tindall ist in Not.« Ich dachte nur, um Himmels willen, reiß dich zusammen.
    »Wo ist er, Felicia?« Die Frage war ziemlich leichtsinnig. Matthew Tindall und ich hatten seit dreizehn Jahren eine Affäre, doch blieb er mein Geheimnis und ich seins. Normalerweise mied ich seine Assistentin.
    Jetzt war ihr Lippenstift verschmiert, der Mund zerknäult wie eine hässliche Socke. »Wo er ist?«, schluchzte sie. »Was ist das denn für eine grässliche Frage?«
    Ich verstand nicht. Ich fragte noch einmal.
    »Catherine, er ist tot«, und damit begann sie erneut zu flennen.
    Ich marschierte in sein Büro, als wollte ich ihr beweisen, dass sie unrecht hatte. So etwas tat man nicht. Mein heimlicher Lover war ein großes Tier – leitender Kurator der Abteilung Metalle. Auf dem Tisch stand das Bild von seinen beiden Söhnen. Im Regal lag sein blöder Tweedhut. Ich schnappte ihn mir. Ich weiß nicht, warum.
    Natürlich hat sie gesehen, wie ich ihn mitgehen ließ. Das war mir längst egal. Als ich über die Philips-Treppe auf den Hauptflur floh, gab es an diesem Aprilnachmittag in den georgianischen Hallen des Swinburne Museum unter den täglich tausend Besuchern und über achtzig Angestellten niemanden, der auch nur ahnte, was gerade passiert war.
    Alles sah aus wie immer. Es konnte unmöglich sein, dass Matthew nicht mehr hier war und darauf wartete, mich zu überraschen. Mein Liebster war eine auffällige Erscheinung. Links oberhalb der kräftigen, langen Nase verlief eine senkrechte Stirnfalte. Das Haar war voll, der Mund groß, weich und immer sanft. Natürlich war er verheiratet. Natürlich, natürlich. Als er mir zum ersten Mal auffiel, war er vierzig, und es dauerte sieben Jahre, bis unsere Affäre begann. Ich selbst war damals knapp unter dreißig und noch eine Art Freak, soll heißen, die erste Uhrmacherin, die das Museum je gesehen hatte.
    Dreizehn Jahre. Mein ganzes Leben. Es war eine schöne Welt, in der wir all die Jahre lebten, SW 1 , das Swinburne Museum, ein fast unbekanntes Schatzkästlein der Stadt London. In dem Museum gab es eine umfassende Uhrenabteilung, eine weltberühmte Sammlung von Taschenuhren und Standuhren, von mechanischen Apparaturen und anderen aufziehbaren Geräten. Wer am 21 . April 2010 dort war, hätte mich sehen können, eine überraschend elegante, hochgewachsene Frau mit einem zerknautschten Tweedhut in der Hand. Vielleicht habe ich ein bisschen konfus gewirkt, vielleicht aber habe ich mich auch kaum von meinen Kollegen unterschieden – den Kuratoren und Konservatoren, die durch die öffentlichen Flure liefen, unterwegs zu einer Verabredung, einer Werkstatt oder einem Lagerraum, um sich einen alten Gegenstand
vorzunehmen
, ein Schwert, einen Quilt, vielleicht auch eine islamische Wasseruhr. Wir waren Museumsmenschen, Gelehrte, Priester, Reparierer, Schmirgler, Wissenschaftler, Klempner, Mechaniker – eigentlich besessene Sammler – Schmalspurspezialisten für Metall, Glas, Textilien oder Keramik. Wir interessierten uns für allerhand, behaupteten wir, verließen uns insgeheim aber darauf, dass die Klischees recht behielten. Ein Uhrmacher war daher niemals eine junge Frau mit hübschen Beinen, sondern eher ein kauziger Kerl von knapp eins siebzig – schüchtern, ein bisschen seltsam, mit schütterem, blondem Haar, der einem nur ungern in die Augen schaute. Man sah ihn wie eine Maus durch die Parterreflure huschen mit stets klimperndem Schlüsselbund und einer Miene, die besagte, dass er ein Geheimnishüter war. Dabei kannte im Swinburne jeder nur einen kleinen Teil des Labyrinths. Wir hatten unsere Territorien auf vertraute Schleichwege reduziert – die Routen, von denen wir wussten, dass sie uns stets dahin brachten, wohin wir wollten. Deshalb war es ja auch so einfach, in diesem Haus ein geheimes Leben zu führen und die ganz eigenen Vergnügungen zu genießen, die solch ein Leben verschaffen kann.
    Im Tod war es der reine Horror. Das heißt, es war genauso, nur heller, schärfer fokussiert. Alles wirkte zugleich klarer und weiter entfernt. Wie war er gestorben? Wie hatte er bloß sterben können?
    Ich hastete zurück in meine Werkstatt und googelte ›Matthew Tindall‹, doch gab es noch nichts Neues über ihn. Allerdings fand ich in meiner Mail eine Nachricht, die
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