Chemie der Tränen

unheimlichen Faksimile von Henrys Handschrift las:
    ›Und Unrat schleudert aus den Tiefen empor wie schwarze Galle, wie Gülle, und das Weltenmeer wird wie eine Mutter sein, aus deren Brüsten Wermut quillt. Die Wahrheit kommt einer Rasierklinge gleich, die keine Zunge zu berühren wagt. Eine Heerschar von Idioten eilt auf Flüssen aus Teer hin und wieder, in der Luft ein schreckliches Lärmen wie von Gänseschwärmen.‹ (Angus sackte in sich zusammen. Ich dachte, zum ersten Mal durchdringt sein Blick ihre Schönheit.) ›Die grausamen Hungersnöte, die Dürrezeiten – all dies wird ein Rätsel sein und ungerecht. Und jeden, der die Wahrheit sieht, nennt man verrückt. Bist du das, unglückseliges Weib? Dann wird man dich steinigen und in den Wassergraben werfen.
    Mysterium Tremendum.
Gespenster kamen, fabelhafte Wesen, doch waren sie unsere Feinde, und wir starben, alle, ausnahmslos, ohne zu wissen, was geschah.‹
    Amanda schloss das Buch und drückte es sich an die Brust.
    »Natürlich«, sagte sie leise, »kann nichts hiervon wahr sein.«
    Ich fühlte die Verzweiflung und Verwirrung wie Sonnenflecken in meinem Hirn. Womöglich war ich eine Schmeißfliege. Womöglich war dieses prächtige Geschöpf ein Genie. Ich werde das verdammte Ding röntgen lassen, dachte ich, warum denn nicht? Warum sollte ich es nicht veranlassen? Niemand wird es wagen, mich davon abzuhalten.
    Angus lag zusammengerollt neben mir. Amanda legte ihren Kopf in meinen Schoß, ihre dreckigen Hände um meine Beine. »Ich bin so müde«, sagte sie.
    Und dann sind wir drei vereint, stehend, kauernd, bis ich kaum noch etwas mit Sicherheit weiß, nur noch, dass unser Innerstes vom größten Sinnesorgan umfangen wird, einem Universum, unserer menschlichen Haut.
    Ich halte Amandas Hand, wie ich einst Matthews Haut berührte und nun über die feuchten Wangen seines Sohnes streiche. Maschinen können nicht fühlen, heißt es allgemein. Seelen haben keine Chemie, die Zeit wird niemals enden. Unsere Haut besitzt vier Millionen Rezeptoren. Mehr weiß ich nicht. Ich liebe dich. Ich halte dich. Du wirst mir ewig fehlen.
Mysterium Tremendum.
Ich küsse deine Zehen.

Über Peter Carey
    Peter Carey, 1943 in Australien geboren, lebt seit rund zwanzig Jahren in New York. Rund um den Globus sind seine Bücher Bestseller; neben J. M. Coetzee ist er der einzige, dem der renommierte Booker Prize zweimal verliehen wurde – 1988 für ›Oscar und Lucinda‹ und 2001 für ›Die wahre Geschichte von Ned Kelly und seiner Gang‹. Zuletzt erschien bei S. Fischer ›Parrot und Olivier in Amerika‹. Im Fischer Taschenbuch liegen außerdem vor: ›Mein Leben als Fälschung‹ (Bd. 16246 ), ›Wrong About Japan‹ (Bd. 16840 ) und ›Liebe. Eine Diebesgeschichte‹ (Bd. 17405 ).

    Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de

Impressum
    Erschienen bei Fischer E-Books

    Die Originalausgabe erschien 2012 unter dem Titel ›The Chemistry of Tears‹ bei Faber & Faber, London
    © 2012 by Peter Carey

    Für die deutschsprachige Ausgabe:
    © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
    Coverabbildungen: John Singer Sargent, National Galleries of Scotland/Bridgeman Art Library und Nick Veasey/Getty Images
    Covergestaltung: hißmann,heilmann, hamburg
    Abbildungsnachweis im Text: Vaucansons Ente © Bettmann/Corbis; Karlsruhe © Staatliche Kunsthalle Karlsruhe Kupferstichkabinett; Silberquittung © The Bowes Museum

    Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
    Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
    ISBN 978-3-10-402238-3



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