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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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Leselampe um und fand schließlich, was ich verloren hatte. Ich nahm eine Tablette, goss mir einen Scotch ein, aß etwas Toast und stellte den Computer an. Das Museumsnetz funktionierte wieder.
    »Ich küsse deine Zehen.«
    Eine widersinnige Angst vor meinem Arbeitgeber hinderte mich daran, eine Antwort zu schreiben. Ich legte die Mail unter ›ungelesen‹ ab.
    Ich zog mir sein Hemd über, nahm seinen Hut, ging zu Bett und schnüffelte. Ich liebe dich. Wo bist du?
    Dann wurde es Morgen, und er war tot. Das Netz hatte erneut den Geist aufgegeben. Matthew war vollständig und auf immer fort. Irgendwo in dieser stinkigen Hitze lag sein armer Leichnam. Nein, in einem Kühlschrank mit einem Schildchen am Zeh. Vielleicht hatte man ihn auch schon in einen Sarg gesperrt. Die Beerdigung war um drei.
    Ich war krankgeschrieben und hatte genügend Schlaftabletten, doch allein würde ich verrückt – keine Kirche, keine Familie, niemand, dem ich die Wahrheit sagen konnte, nichts außer dem Swinburne, das ich blöderweise zu meinem Leben gemacht hatte. Mittags saß ich wieder in der klaustrophobisch engen U-Bahn. Drei Züge später tauchte ich mit ungewaschenem Haar in Olympia auf. Draußen hing ein gelblicher Dunstschleier in der Luft.
    Meine Kollegen im Hauptmuseum dürften sich inzwischen für die Beerdigung umgezogen haben. Es war noch zu früh, also warteten sie sicher noch in ihren Werkstätten, umgeben von ihrem Leben, von persönlichem Krimskrams, den Fotos ihrer Kinder, der Lieben, von Urlaubsbildern. Meine eigene Werkstatt verriet nichts über mich: An der Pinnwand hingen Aufnahmen von einem Baum in Southwold und von einer leeren Straße in Beccles; die wahre Bedeutung dieser Bilder aber war nur uns beiden bekannt. Uns einem.
    Die Wände meines alten Arbeitsraums waren cremefarben gestrichen, das Linoleum war braun, und das Zimmer passte zu mir wie ein liebgewonnener, alter, angeschlagener Krug. Meine Werkstatt in Olympia dagegen hatte einen polierten Betonboden, und die Jalousien blieben zugezogen, weil der Blick nach draußen so deprimierend war. Ich musste an jene Gefängnisinsassen denken, die man im 19 . Jahrhundert mit Säcken über dem Kopf in ihre Zellen geführt hatte, um sie einzusperren und endlos an Webstühlen arbeiten zu lassen, ohne dass sie je erfuhren, wo sie eigentlich waren. In meinem Fall war es kein Webstuhl, sondern eine Reihe Teekisten.
    An meinem Arbeitsplatz stand ein nagelneuer Apple Mac. Gmail funktionierte ganz normal, nur der Museumsserver litt, wie typisch, mal wieder unter ›extremen Wetterbedingungen‹.
    Mein Kopf fühlte sich an wie in Watte gepackt, und ein Gewicht lag mir auf der Brust, doch reihte ich meine Werkzeuge wie die Instrumente eines Chirurgen auf – Zangen, Scheren, Stichsäge, Feilen, Räumnadel, Hammer, antimagnetische Pinzetten, Messing- und Stahldraht, Gewindeschneider und Gewindebohrer, Feilkolben, etwa zwanzig Gerätschaften insgesamt, alle mit einem Klecks hellblauen Nagellack markiert. Matthews Idee.
    Nun, was soll’s? Wir müssen unser Leben leben. Ich machte die erste Teekiste auf und fand ein heilloses Durcheinander, alles in Seiten der
Daily Mail
eingeschlagen, auf deren gelblichen Titelseiten ich die Kuppel der St. Paul’s Kathedrale und Rauchwolken sehen konnte. Die Sachen waren also während des Blitzkrieges von Amateuren eingepackt und aus London in die Sicherheit ländlicher Regionen evakuiert worden.
    Ich dachte nur, bitte, lieber Gott, mach, dass dieses ›Ding‹ keine Kleider oder irgendwelche Stoffe hat. Abgesehen davon, wie er so widerlich die Lippen hochzog, um seine Zähne zu entblößen, habe ich am rauchenden Affen vor allem den Seidensamt gehasst – verwaschen und brüchig, mürbe und fleckig. Wenn das Uhrwerk lief, war es diese verblichene Schäbigkeit, die das untote Ding so beängstigend aussehen ließ.
    Aber ehrlich gesagt, jeder, der einmal eine gelungene mechanische Apparatur, einen Automaten gesehen hat, der seine unheimlich lebensechten Bewegungen verfolgt, in seine künstlichen Augen geblickt hat, jedes menschliche Wesen erinnert sich an diese eigenartige Furcht, an die Verwirrung angesichts dessen, was lebendig ist und doch nicht geboren werden kann. Descartes behauptete, Tiere seien Automaten. Ich war mir immer sicher, dass ihn nur die Angst vor der Folter abhielt, Gleiches auch über den Menschen zu sagen.
    Weder Matthew noch ich hatten Zeit für Seelen. Dass wir komplexe chemische Maschinen waren, hat unserem Staunen nie
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