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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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Abbruch getan, unserer Verehrung für Vermeer und Monet, für unsere im salzigen Wasser treibenden Leiber, unsere flüchtige Freude angesichts des vergehenden Lichts.
    Jetzt aber war das Licht erloschen. In einer Stunde wurde es unter Erde erstickt. Ich vergrub die Hände im Rattennest aus Zeitungspapier und brachte eine recht schlichte Tabakdose zum Vorschein. Sie war gelb, und darauf stand in brauner Schrift ›Sams ureigene Mixtur‹, außerdem war das Bild von einem Hund zu sehen, vermutlich Sam, ein prächtiger Labrador, der bewundernd aufblickte. Ich sollte mir einen Hund anschaffen. Ich könnte ihm beibringen, auf meinem Bett zu schlafen, und er würde mir über die Augen lecken, wenn ich weinte.
    Ich schüttete den Inhalt auf ein Metalltablett. Dass es kleine Messingschrauben waren, konnte jeder sehen, die Augen einer Uhrmacherin aber sahen mehr – zum Beispiel, dass die meisten vor 1841 hergestellt worden waren. Die jüngeren Schrauben, etwa zweihundert Stück, besaßen ein Standard-Whitworth-Gewinde im Winkel von knapp fünfundfünfzig Grad. Konnte ich diese fünfundfünfzig Grad wirklich sehen? O ja, selbst mit Tränen in den Augen. Das hatte ich im Alter von zehn Jahren gelernt, als ich in Clerkenwell neben meinem Großvater auf der Bank gesessen hatte.
    Ich wusste also gleich, dass dieses ›Objekt‹ Mitte des 19 . Jahrhunderts hergestellt worden war, als das Whitworth-Gewinde zum offiziellen Standard wurde, viele Uhrmacher aber noch ihr eigenes Gewinde schnitten. Die unterschiedlichen Gewindearten verrieten mir zudem, dass Croftys ›Objekt‹ das Resultat vieler Werkstätten war. Beim Restaurieren würde ich folglich unter anderem die passenden Schrauben für die jeweiligen Löcher suchen müssen, was sich nervraubend anhören mag, aber genau das war, was mir an der Uhrmacherei gefiel, wie ich sie von Großvater Gehrig gelernt hatte – diese absolute, äußerste Ruhe.
    Als ich zur Kunstschule gehen wollte, dachte ich, so müsse es sich anfühlen, wenn man zum Beispiel wie Agnes Martin malte. Mir kam nicht einmal der Gedanke, sie könnte an Depressionen gelitten haben.
    Ich hoffe, mein Vater hat dieses glückselige Gefühl als junger Mann gekannt, bezweifle es aber. Jedenfalls hatte er es fraglos längst verloren, als ich von unserem Familiengeheimnis erfuhr. Soll heißen: Mein Vater war Alkoholiker. Er fiel vom Stuhl, ohne dass ich wusste, was er für ein Problem hatte. Seine überraschenden Reisen ins Ausland waren Sauftouren, nehme ich an, oder Entziehungskuren. Gab es damals schon Entziehungskuren? Wie sollte ich das je erfahren? Armer, armer, lieber Daddy. Er hat die Uhrmacherei geliebt, ging jedoch an dem zugrunde, was sie geworden war. Er hasste die Stadtlümmel, die in seinen Laden kamen und verlangten, dass er Batterien austauschte.
    Zieht Leine, ihr mit euren dämlichen Batterien!
    Mein Matthew blieb stets mit dem gesegnet, was mein Vater verlor, mit dem tiefen Frieden metallner Dinge. Wissenschaftlich gesehen natürlich reiner Unsinn. Metalle kommen erst zur Ruhe, wenn sie verrostet oder auf andere Weise oxidiert sind. Erst dann finden sie Frieden. Bis jemand wie Eric Croft kommt und sie
zum Glänzen
bringen will, sie in einen prunkenden, die Massen zufriedenstellenden Zustand versetzen lässt, in dem sie eigentlich doch nur armselige Kreaturen mit abgezogener Haut sind, nackt an schmerzhafter Luft.
    Natürlich nicht bloß Eric. Als Matthew und ich ein Liebespaar wurden, half ich ihm, seinen Mini zu schleifen, bis bloß noch das blanke Metall zu sehen war. Wer hätte gedacht, dass so die Liebe sein könnte?
    Als ich mit ziemlich zittrigen Händen die dünnen Sperrholzdeckel der Teekisten abhob, fand ich eine große Anzahl gebogener Glasstangen, was mir verriet, dass diese Apparatur vermutlich doch kein Affe war.
    Ich begann, auf ziemlich unprofessionelle Weise herumzuwühlen und förderte einen fiesen Münzeinwurfmechanismus aus den 1950 er Jahren und eine Reihe mit einer Bastschnur zusammengebundener Notizhefte zutage.
    Letztere trug ich zur Werkbank; dann schloss ich die Teekiste.
    Und das war der Augenblick, etwa dreißig Minuten vor drei Uhr nachmittags, in dem ich vom geraden Pfad der Tugend abwich. Hätte ich mich an die Vorschriften gehalten, hätte ich die Blätter nicht angerührt, bis Miss Heller (die mich nicht mochte) die Notizhefte zu ihren ›Papierleuten‹ gebracht hatte. Es wäre mir nicht vergönnt gewesen, auch nur ein einziges Wort zu lesen. Ich hätte warten müssen
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