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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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meine Laune hob, bis mir auffiel, dass sie schon gestern Nachmittag um vier Uhr abgeschickt worden war. »Ich küsse deine Zehen.« Ich schob sie in den Ordner ›ungelesene Post‹.
    Es gab keinen Menschen, an den ich mich zu wenden wagte. Ich nahm mir vor zu arbeiten. So habe ich es in Krisensituationen immer gehalten. Dafür sind Uhren gut, ihre Feinheiten, ihre seltsamen Rätsel. Ich saß auf der Bank in meiner Werkstatt und versuchte, mit einer höchst launischen französischen Standuhr aus dem 18 . Jahrhundert klarzukommen. Auf einem weichen, grauen Ledertuch lagen die Werkzeuge bereit. Noch zwanzig Minuten zuvor hatte mir diese französische Uhr gefallen, jetzt aber fand ich sie eitel und aufgedonnert. Ich vergrub meine Nase in Matthews Hut. ›Schnüffeln‹ hätten wir dazu gesagt. »Ich schnüffle an dir.« »Ich schnüffle an deinem Hals.«
    Ich hätte zu Sandra gehen können, meiner Vorgesetzten. Sie war immer freundlich, doch konnte ich den Gedanken nicht ertragen, dass irgendwer, nicht einmal Sandra, sich an meinen Privatangelegenheiten zu schaffen machte, sie auf dem Tisch ausbreitete und herumschob, als wären sie Perlen einer gerissenen Kette.
    Hallo, Sandra, wissen Sie, was mit Mr Tindall passiert ist?
    Mein deutscher Großvater und mein überaus englischer Vater waren Uhrmacher, nichts besonders Aufregendes – erst Clerkenwell, dann London, dann wieder Clerkenwell –, meist gute, solide englische Uhrwerke mit fünf Zahnrädern – doch schon als kleines Mädchen galt es für mich als ausgemacht, dass die Uhrmacherei eine sehr beruhigende, zufriedenstellende Beschäftigung sein musste. Jahrelang glaubte ich, sie könne jede Aufruhr im Herzen stillen. Ich war mir so sicher und irrte mich doch so sehr.
    Die Kantinenfrau breitete zur Teestunde ihr deprimierendes Angebot aus. Ich musterte die sich gegen den Uhrzeigersinn drehende, leicht geronnene Milch und wartete wohl nur auf ihn, als mich plötzlich eine Hand berührte und ich komplett die Fassung verlor. Die Hand fühlte sich an wie die von Matthew, aber Matthew war tot, und an seiner Stelle stand Eric Croft vor mir, leitender Kurator der Uhrenabteilung. Ich brach in Tränen aus und konnte nicht mehr aufhören zu heulen.
    Er war der denkbar ungeeignetste Zeuge.
    CraftyCrofty war, um es unmissverständlich auszudrücken, der Herr all dessen, was tickte und tackte, ein Gelehrter, ein Historiker, ein Connaisseur, ich dagegen nur eine gebildete Mechanikerin. Crofty galt als berühmt wegen seiner Abhandlung über
Sing-Songs
, womit jene perfekten imperialen Missverständnisse orientalischer Kultur gemeint sind, die wir im 18 . Jahrhundert so erfolgreich nach China exportierten, hochkomplexe Spieluhren, verborgen in den ausgefallensten, meist auf reich verzierten Unterbauten präsentierten Arrangements exotischer Tiere und Gebäude. Denn so war es nun einmal für die Mitglieder unserer Kaste, auf derlei errichteten wir unsere schwankenden Leben. Die Tiere bewegten Augen, Ohren oder Schwänze, Pagoden stiegen auf und versanken. Sternjuwelen drehten sich, und rotierende Glasstäbe schufen glaubhafte Wasserimpressionen.
    Ich heulte und heulte, und nun war ich es, deren Mund einer Sockenpuppe glich.
    Wie der breitschultrige Vorsitzende eines Rugbyvereins, der sich einen Chihuahua als Schoßhund hält, hatte Eric keinerlei Ähnlichkeit mit seinen Sing-Songs, die man eher für den passionierten Zeitvertreib eines schlanken, sehr anspruchsvollen Homosexuellen halten mochte. Ihn zeichnete vielmehr eine draufgängerische Hetero-Attitüde aus, wie sie für ›Metall‹-Leute typisch ist.
    »Nein«, rief er, »nicht, still doch.«
    Still doch? Er war nicht grob zu mir, legte mir nur seinen langen, harten Arm auf die Schulter, schob mich in einen begehbaren Laborabzug und stellte den Lüfter an, der wie zwanzig Föhne gleichzeitig losbrüllte. Ich dachte, ich habe wohl die Katze aus dem Sack gelassen.
    »Nein«, sagte er, »nicht.«
    Die Kammer war schrecklich klein, einzig gebaut, damit Konservatoren alte Gegenstände mit toxischen Lösungsmitteln säubern konnten. Crofty streichelte meine Schulter, als sei ich ein Pferd.
    »Wir kümmern uns um Sie«, sagte er.
    Mitten im Geflenne begriff ich plötzlich, dass Crofty mein Geheimnis kannte.
    »Gehen Sie erst einmal nach Hause«, sagte er leise.
    Ich dachte, ich habe uns verraten, dachte, Matthew wird stinksauer sein.
    »Treffen Sie mich im Café«, sagte er. »Morgen um zehn? Beim Annex, gleich auf der anderen
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