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Chemie der Tränen

Chemie der Tränen

Titel: Chemie der Tränen
Autoren: Peter Carey
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das, was auf meinem Küchentisch lag, das Ergebnis einer präzisen, vermutlich in ebendieser Küche oder in Annie Hellers Schlupfwinkel durchgeführten Lektüre von Henry Brandlings Notizbüchern war. Wie meist in solchen Fällen handelte es sich um eine sehr persönliche Lesart, doch offenbarte die Kombination ihres ausgereiften Talents mit ihrer gnadenlosen abstrakten Logik eine Qualität, vor der ich zurückschreckte.
    Was, wenn es Gespenster gäbe, dachte ich.
    Amanda dürfte kaum älter als dreiundzwanzig Jahre sein, dennoch hatte sie, allein von dem starken Wunsch getrieben, ›tiefe Ordnung‹ im Chaos zu finden, eine detaillierte, anmutige Architektur vorgelegt.
    Es dauerte einige Augenblicke, bis ich verstand, dass visueller Mittelpunkt ein Plan der Stadt Karlsruhe war, wie Sumper ihn Henry Brandling gezeigt hatte – die Stadt des Rads, doch auch, wie Amanda in Großbuchstaben hinzugesetzt hatte, die ›Heimatstadt von Karl Benz‹. Sie hatte ein Porträt von Karl Benz skizziert oder umrissen, in gespenstisch grauem Graphit, und darunter in einem Faksimile von Henrys Handschrift notiert: »Karl Benz schaut zurück auf die Heimat seiner Kindheit: blaue Berge, ein durchwandertes Tal, ein Tal, das ihm mit seinen grünen Hügeln und rauschenden Bächen sehr vertraut war, Tannen kleben an den Felsen und ragen hoch über dem kleinen Schwarzwalddorf auf.«
    Sie hatte den kleinen Carl zu Karl Benz gemacht. »Geboren 1844 «, schrieb sie. Grundgütiger, dachte ich – konnte das stimmen?
    Dieselbe ernste Studentin, die beweisen wollte, dass es sich bei dem blauen Würfel um ein christliches Kreuz handelte, war zu dem Schluss gekommen, dass der Bootsrumpf eine Art hölzernes Pferd sein müsse, dessen Doppelverschalung angebracht worden war, um nicht allein einen blauen Würfel, sondern die ›Geheimnisse‹ eines Verbrennungsmotors durch die Zeit zu schmuggeln; und diese Geheimnisse hatte sie mit solchem Geschick und solcher Sorgfalt dargestellt, dass es unmöglich schien, sie nicht für ›wahr‹ zu halten. Ich wusste genügend über Maschinen, um eine Nockenwelle zu erkennen, Ventile und Ventilstößel, doch gab es da auch ebenso ›wahrheitsgetreu‹ wiedergegebene Bauteile nebst Varianten, die eigens angefertigten Objekten glichen, deren Funktion man sich aber beim besten Willen nicht vorzustellen vermochte.
    Ich dachte, sie ist total verrückt. Ich dachte auch: Bin ich zu blöd, um zu erkennen, dass es sich hier um eine Kritik an der industriellen Revolution handelt?
    »Bitte, Amanda.« Ich wollte die Papiere zusammenraffen, sie gleich zu Eric bringen.
    »Nein!« Sie schlug meine Hand beiseite.
    »Dies sind Teile eines Verbrennungsmotors, Amanda.«
    »Ach nee.«
    »Und die stecken in einem Rumpf, der 1854 gebaut wurde.«
    »Haben Sie ein gutes Gedächtnis für das, was Sie gelesen haben?«
    »Ein ziemlich gutes.«
    »Ich habe ein
exzellentes
Gedächtnis«, sagte sie, griff nach meiner Hand und hielt sie fest. Ich widerstand der Versuchung, mich von ihr zu befreien. »›Sie befinden sich im selben Zustand wie eine Fliege, deren mikroskopische Augen so verwandelt wurden, dass sie denen eines Menschen gleichen. SIE SIND GÄNZLICH UNFÄHIG , DAS GESEHENE MIT DEM ZU VEREINBAREN , WAS DAS LEBEN SIE GELEHRT HAT .‹«
    Ich wollte etwas sagen, aber sie kam mir zuvor. »›Sie haben keine Ahnung, wo Sie sind. Sie haben keine Ahnung, was hier geschehen wird. In ebendiesem Raum, das verspreche ich, werden Sie Zeuge eines Wunders, wie es noch nie gesehen wurde.‹ Wissen Sie, was das bedeutet?«
    »Amanda.«
    »Das bedeutet, dass man uns alle umbringen wird. Dafür ist diese Maschine gedacht. Sie ist kein Werk von Menschenhand.«
    Mit dieser wilden Ankündigung schlug sie ihren Skizzenblock auf, wo mein Blick auf dieselben vertrauten Sätze fiel, die am Anfang der Zeile beginnen und mit den Zehen überm Abgrund enden.
    »Das soll Henry Brandling sein?«
    »Natürlich.«
    Sie hatte es ganz offensichtlich selbst geschrieben und trug ihre Fälschung nun ins Wohnzimmer, wo sie sich neben mich auf den Teppich kniete.
    »Bitte«, sagte sie und griff wieder nach meiner Hand. Ich dachte, die Haut ist das größte Sinnesorgan des Körpers. Sie besitzt über vier Millionen Rezeptoren. Es ist die Haut, die uns den sanften Windhauch spüren lässt, unseren Liebsten, der uns streichelt. Die Haut registriert auch unsere Leseerfahrung, zumindest tat sie es in meinem Fall: Mich überlief eine Gänsehaut, als ich folgende Worte im
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