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Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Sieben Siegel 10 - Mondwanderer

Titel: Sieben Siegel 10 - Mondwanderer
Autoren: Kai Meyer
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murmelte. Er bückte sich und ließ zu, dass Lisa auf seine Schultern kletterte. »Halt dich gut fest!«
    Ganz langsam richtete er sich auf. Beide schwankten, aber irgendwie gelang es Lisa, ihr Gleichgewicht zu halten.
    Sie sah das Lichtbündel über sich näher kommen, blitzend und flimmernd.
    Chris stand jetzt fast aufrecht. Dann drückte er die Knie durch.
    Lisa schloss die Augen.
    Der Energiestrom floss über ihr Gesicht, über ihren Hals, und als sie schließlich hoch aufgerichtet auf Chris’ Schultern stand, bohrte sich der Lichtstrom in ihre Brust, genau an der Stelle, wo ihr Herz schlug.
    Hinter ihrem Rücken brach der Energiefluss schlagartig ab. Doch das nahm sie gar nicht mehr wahr.
    Ihre eigenen Empfindungen endeten auf einen Schlag. Helligkeit überschwemmte ihre Sinne, und ein Hagel aus Gefühlen, fremden Gefühlen, brach über sie herein. Sie vergaß, wer sie war, war plötzlich viele, spürte die Leben all dieser Menschen aus Giebelstein an sich vorüberziehen, ihre Wünsche und Ängste, ihre Gedanken. Gute und böse, schöne und gemeine Gedanken. Kälte und Hitze. Kraft und Schwäche. Spürte all das und viel mehr – und dann war sie wieder sie selbst, und sie fühlte, wie sie zu Licht zerfloss, ein einziges Bündel Mensch in diesem Sturm aus Energien und Mächten, die so fremd und zugleich so vertraut waren.
    Irgendwo, unendlich weit entfernt, vernahm sie einen Schrei, wie ihn kein Lebewesen ausstoßen konnte, verspürte eine Woge von Zorn und Hass auf sich zurasen.
    Chris, dachte sie.
    Und noch einmal: Chris …
    Dann erlosch die Helligkeit, und am Himmel standen wieder Sterne, und unter ihr war nicht mehr Chris, sondern weiches Gras und steiniger Boden.
    »Lisa?«
    Eine Stimme.
    »Mein Gott, Lisa …«
    Ihre Augenlider flimmerten. Ihre Sicht war verschwommen, klärte sich nur allmählich. Wie im Reflex fuhr ihre Hand an die Brust, spürte den Herzschlag unter ihrer Kleidung, unter der Haut. Sie lebte.
    »Frau Rabenson?«, brachte sie schwach hervor. »Sind … sind Sie das?«
    Kyras Tante hatte Tränen in den Augen, als sie nickte. Sie konnte nicht sprechen, musste nach Atem ringen, aber grenzenlose Erleichterung stand in ihrem Blick. Ihr lockiges Haar war feucht und zerwühlt; manche Strähnen waren mit schwarzem Schleim verklebt. Auch ihre Wangen waren davon überzogen.
    Lisa schaute um sich. Sie lag im Gras am Fuß des Bahndamms, am Rand der Kieselwiese. In einiger Entfernung rappelten sich weitere Gestalten hoch, halfen sich gegenseitig auf die Beine.
    »Wo ist Chris?«, fragte Lisa.
    »Hier«, sagte eine Stimme außerhalb ihres Sichtfelds. »Ich bin hier.« Dann war er bei ihr und drückte sie fest an sich.
    Hinter Kassandra stand ihr klappriges Auto. Die Hintertür stand offen. Zwei Gestalten schleppten sich von dort aus auf sie zu.
    Nils musste Kyra stützen, aber sie zeigte den Schmerz nicht, den ihr Knöchel ihr bereitete. Sie winkte Lisa mit der freien Hand zu und strahlte über das ganze Gesicht. Lisa nahm an, dass Kyra und ihr Bruder eine Menge zu erzählen hatten – wenn auch nicht halb so viel wie Chris und sie selbst.
    Mal sehen, ob sie Kyra wirklich alles erzählen würden.
    Chris’ Augen glänzten. »Ich hatte solche Angst um dich«, flüsterte er.
    Lisa lächelte schwach. »Ging mir nicht anders.«
    Dann blickten beide zum Bahndamm hinauf. Die Schattenwaggons waren fort. Wo sie gestanden hatten, sah es aus, als habe es schwarzen Schleim vom Himmel geregnet. Sogar die Brombeersträucher am Hang waren damit getränkt.
    In einer besonders widerlichen Schleimpfütze, gar nicht weit entfernt, lag ein alter Zylinder. Mehr war nicht übrig vom ehrenwerten Doktor Karfunkel. Die Macht des Mondmannes hatte ihn und seine neun Diener am Leben erhalten; doch als die Energie aus Giebelstein versiegt war, war alles Menschliche von ihnen abgefallen und zu schwarzem Schleim zerflossen.
    Der Nebel hatte sich gelichtet. Der Nachthimmel über ihnen war klar, und die Sterne glänzten wie Diamanten in der schwarzen Samtauslage eines Juweliers. Dazwischen hing der Mond und blickte auf sie herab wie ein bleiches Auge. Deutlich war darauf eine Silhouette zu erkennen, eine Form aus schattigen Kratern.
    Der Mann im Mond.
    Reglos. Starr. Tot.
    Chris zog Lisa zu sich heran. Er lachte und küsste sie sanft.
    Und alle sahen zu.
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